Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dürfte am 1. Januar widersprüchliche Gefühle haben. Einerseits könnte er sich freuen, endlich da zu sein, wo er immer schon hinwollte: an einer wichtigen Schaltstelle der EU. Andererseits fällt der französische EU-Ratsvorsitz mit dem Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich zusammen, was eine Menge Stress bedeutet. Ganz zu schweigen von der Daueraufgabe, die Corona-Pandemie in den Griff zu bekommen.
Wahlen werden selten mit außenpolitischen Themen gewonnen, doch der EU-Ratsvorsitz bietet Macron eine gute Bühne, um für seine Agenda zu werben. „Dafür ist es wichtig, europäische Themen mit internen Themen zu verknüpfen“, sagt die Politikwissenschaftlerin Claire Demesmay im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP. Ein „Europa, das schützt“, in dem es einheitlich Mindestlöhne geben soll, das spreche die Menschen in Frankreich durchaus an.
Franzosen gefalle es auch, wenn ihr Präsident internationale Politiker empfange, sagt Demesmay. Auf dem Besuchsprogramm stehen ein gutes Dutzend Treffen im ganzen Land, unter anderem in Macrons Geburtsort Amiens, aber auch in Brest, Lens, Grenoble, Bordeaux und Marseille. Sollten diese Termine wegen der Corona-Infektionslage in Videokonferenzen umgewandelt werden, würde dies für Macron auch den Verlust vieler schöner Fototermine bedeuten. Angesichts der explodierenden Corona-Zahlen in Frankreich von zuletzt über 200.000 Neuinfektionen am Tag könnten die im Januar geplanten Termine als Präsenzveranstaltungen allerdings ausfallen.
Es ist nicht das erste Mal, dass ein französischer Präsident den EU-Ratsvorsitz übernimmt, ohne zu wissen, ob er ihn bis zum Ende innehat. 1995 gab es mitten während der Ratspräsidentschaft den Wechsel von François Mitterrand zu Jacques Chirac. Neu ist aber, dass Macron mit großer Wahrscheinlichkeit für seine Wiederwahl antreten und daher auch auf EU-Ebene seine Wähler überzeugen will.
Macron dürfte die Gelegenheit nutzen und sich der jüngsten Errungenschaften der EU rühmen, insbesondere des Wiederaufbaufonds im Umfang von 750 Milliarden Euro. Der französische Präsident hatte schon lange eine gemeinsame Schuldenaufnahme in Europa zur Ankurbelung der Konjunktur gefordert. Möglich wurde dies erst, als Deutschland angesichts des Ausmaßes der Corona-Krise seinen Widerstand aufgab.
Macron ist sich bewusst, dass er ohne deutsche Hilfe in der EU nicht viel durchsetzen kann. Der Zufall will es, dass Deutschland zur gleichen Zeit den G7-Vorsitz übernimmt und ebenfalls mit französischer Unterstützung rechnet – keine schlechte Voraussetzung für eine enge Zusammenarbeit.
Für den französischen Präsidenten ist die Übernahme der Ratspräsidentschaft ein Höhepunkt seiner europäischen Ambitionen. Bei seiner Amtsübernahme 2017 hatte er die europäische Hymne erklingen lassen, kurz darauf hatte er in einer Rede an der Sorbonne ein Feuerwerk an Ideen für Europa gezündet.
Macrons Leitmotiv ist ein „souveränes Europa“. „Wir müssen von einem Europa der internen Zusammenarbeit zu einem mächtigen Europa in der Welt kommen“, sagt Macron mit Blick auf die sich zurückziehenden USA und das aufstrebende China. In Frankreich fiel es positiv auf, dass im Berliner Koalitionsvertrag mit Blick auf die EU von „strategischer Souveränität“ die Rede ist.
„Die französische EU-Ratspräsidentschaft ist ein sehr ehrgeiziges Vorhaben“, sagt Sébastian Maillard, Vorsitzender des Instituts Jacques Delors. „Er braucht greifbare Ergebnisse bis Anfang April“, meint der Experte mit Blick auf die Präsidentschaftswahl im selben Monat.
Die Liste der Vorhaben ist lang, sie reicht von der Reform des Schengenraums über flexiblere Haushaltsregeln bis zur CO2-Steuer und Initiativen zur Digitalisierung. Es sind alles Themen, die ohnehin schon intensiv in der EU debattiert werden.
Seinen ersten Auftritt als „EU-Präsident“, wie der Posten in Frankreich gerne etwas verkürzt genannt wird, hat Macron am 19. Januar vor dem EU-Parlament in Straßburg. Es wird erwartet, dass er kurz danach seine Kandidatur für seine Wiederwahl erklärt.