Nein, Ursula von der Leyen hat nicht die Abschaffung des Nürnberger Kodex gefordert

Ursula von der Leyen - Bild: European Union 2021 – Source: EP
Ursula von der Leyen - Bild: European Union 2021 – Source: EP

Hunderte User haben die angebliche Forderung auf Facebook in verschiedenen Versionen geteilt (hierhierhier). Auch mehrere Blogs haben Artikel mit der Behauptung veröffentlicht (hierhier). Auf Telegram erreichte die Behauptung Hunderttausende.

Die Falschbehauptung

In den Postings heißt es: „Ursula Van Der Leyen, die Vorsitzende der EU-Kommission, sagte der Presse am Mittwoch, sie sei dafür, den langjährigen Nürnberger Kodex abzuschaffen und Menschen zu zwingen, sich gegen COVID impfen zu lassen.“

Screenshot der Falschbehauptung auf Facebook: 17.01.2022

In der Vergangenheit kursierten immer wieder falsche Behauptungen zur möglichen Corona-Impfpflicht. So berichteten Facebook-Postings etwa fälschlicherweise von „Zwangsimpfungen“ in Polen.

Österreich führt als erstes EU-Land eine Corona-Impfpflicht ein. Diese soll ab Februar 2022 gelten. AFP widerlegte Falschinformationen dazu, wie oft Menschen sich dort impfen lassen müssten. Auch in Deutschland, wo bis zum 15. März 2022 bereits alle Beschäftigten in Kliniken und Heimen einen Genesenen- oder einen Impfnachweis vorweisen müssen, werden Modelle zur allgemeinen Impfpflicht (hierhierhier) diskutiert. Anfang Dezember 2021 warnte die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass eine solche Maßnahme nur als „letztes Mittel“ eingesetzt werden sollte.

Die mögliche Einführung einer Impfpflicht verstehen einige Facebook-User als Verstoß gegen den Nürnberger Kodex. Dieser wurde 1947 als Folge von grausamen und unethischen Menschenexperimenten im Nationalsozialismus eingeführt. Er beschreibt Verhaltensrichtlinien für Gesundheitspersonal und Forschende bei medizinischen Experimente an Menschen. Der Kodex beinhaltet zehn Punkte, die unter anderem festhalten, dass Versuchsteilnehmende immer freiwillig an Experimenten teilnehmen und diese auch jederzeit abbrechen können.

Von der Leyen hat keine Abschaffung des Nürnberger Kodex gefordert

Die Facebook-Postings geben als Quelle für die angebliche Forderung von der Leyens eine Pressekonferenz am 1. Dezember 2021 mit der Kommissionspräsidentin an. Bei dieser hat sie Reporterinnen und Reportern Fragen zu Herausforderungen bei Corona-Ausbrüchen und zur Omikron-Variante beantwortet.

Von der Leyen erklärte in der Pressekonferenz (bei Minute 12:49), dass es nicht in ihrer Zuständigkeit liege, EU-Mitgliedstaaten Corona-Maßnahmen zu empfehlen. Tatsächlich kann die EU-Kommission den Mitgliedstaaten keine Maßnahmen bei der Impfpolitik vorschreiben. In dem Statement formulierte von der Leyen aber ihre persönliche Meinung und forderte, eine Diskussion über eine Impfpflicht zu führen.

Sie sagte: „Vor zwei oder drei Jahren hätte ich nie gedacht, dass wir diese schreckliche Pandemie haben, dass wir die lebensrettenden Impfstoffe haben, aber dass sie nicht überall angemessen eingesetzt werden, und dass dadurch enorme Gesundheitskosten entstehen. Ein Drittel der europäischen Bevölkerung ist nicht geimpft, das sind 150 Millionen Menschen, das ist eine Menge. Nicht jeder Einzelne kann geimpft werden, aber die große Mehrheit könnte es.“

Ihr persönlicher Lösungsansatz: „Ich halte es für verständlich und angemessen, dass wir jetzt eine Diskussion darüber führen, wie wir die Impfpflicht in der Europäischen Union fördern und möglicherweise einführen können. Das muss diskutiert werden, das muss gemeinsam angegangen werden, aber es ist eine Diskussion, die meiner Meinung nach geführt werden muss.“

Der Nürnberger Kodex wird von von der Leyen an keiner Stelle in der Pressekonferenz erwähnt.

Stefan de Keersmaecker, ein Sprecher der Europäischen Kommission, sagte auf AFP-Anfrage am 6. Dezember von der Leyen habe „auf dieser Pressekonferenz am 1. Dezember nur ihre persönliche Meinung zur Impfpflicht geäußert. Er betonte, dass sie „überhaupt nicht“ über den Nürnberger Kodex gesprochen habe und erklärte außerdem: „Mir sind keine anderen Gelegenheiten bekannt, bei denen sie sich auf diesen Kodex als Teil der Impfpolitik hätte beziehen können.“

Verstößt eine Impfpflicht gegen den Nürnberger Kodex?

Der Behauptung, eine Impfpflicht verstoße gegen den Nürnberger Kodex, widersprach Jonathan D. Moreno, Professor für Bioethik an der Universität von Pennsylvania in den USA, gegenüber AFP in einem früheren Faktencheck zu vermeintlichen Verstößen gegen den Nürnberger Kodex aus dem Mai 2020: „Beim Nürnberger Kodex geht es um Experimente am Menschen, nicht um Impfungen. Der Nürnberger Kodex ist durchaus mit Impfungen vereinbar.“

Auch Steven Joffe, Professor für Medizinethik an der Universität von Pennsylvania, sagte in dem Faktencheck, dass “Impfstoffe in keiner Weise einen Verstoß gegen den Nürnberger Kodex darstellen.”

Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) hat mehrere Corona-Impfstoffe in Europa bedingt zugelassen. Das Paul-Ehrlich-Institut, das für Impfstoffzulassungen und Kontrollen in Deutschland zuständig ist, hat eine Liste mit den zugelassenen Impfstoffen veröffentlicht. Diese Impfstoffe haben alle nötigen Zulassungsschritte mit Tierversuchen und klinischen Studien durchlaufen. Bevor Medikamente in Deutschland klinisch getestet werden, müssen laut dem Bundesministerium für Bildung und Forschung die Methoden von einer Ethik-Kommission zugelassen werden. Ähnliche ethische Kriterien gelten auch in den USA und anderen Ländern.

Fazit

Für die Behauptung, die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, habe die Abschaffung des Nürnberger Kodex gefordert, gibt es keine Belege. In der Pressekonferenz, die als Quelle für die vermeintliche Forderung genannt wird, erwähnt niemand den Nürnberger Kodex. Sie äußert sich lediglich zur Diskussion über die Impfpflicht.

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