Das am Donnerstag zur Veröffentlichung kommende Gutachten zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising arbeitet auch einen Fall auf, der als beispielhaft für den fahrlässigen Umgang der katholischen Kirche mit Kindesmissbrauch gilt: Der Priester Peter H. wurde 30 Jahre lang in immer neuen Gemeinden eingesetzt, obwohl Vorgesetzte seine Pädophilie kannten. H. kam unter dem Erzbischof Joseph Ratzinger 1980 nach München – viele fragen sich, ob der spätere Papst Benedikt XVI. seine Vorgeschichte kannte und damit Mitverantwortung trägt.
Der inzwischen aus dem Priesteramt entbundene H. fiel erstmals Ende der 70er Jahre als junger Kaplan im Bistum Essen durch Pädophilie auf. Dem elfjährigen Opfer gab er Alkohol und missbrauchte den Jungen wiederholt. Es war nicht der einzige Fall in Nordrhein-Westfalen, wie inzwischen bekannt ist. Der aktuelle Essener Bischof Franz-Josef Overbeck gab die Gesamtzahl der Opfer in dem Bistum vor zwei Jahren im ZDF mit mindestens acht an. Dazu kämen fünf weitere Fälle, bei denen Missbrauch nach Aktenlage zu vermuten sei.
Statt den Priester strafrechtlich zu belangen, versetzte ihn die katholische Kirche 1980 zur Therapie ins bayerische Erzbistum München und Freising, wo damals Ratzinger Erzbischof war. Bereits nach kurzer Zeit wurde H. wieder als Priester in Pfarrgemeinden eingesetzt und missbrauchte in den Folgejahren wiederholt Jungen.
1986 erhielt er als einziges strafrechtliches Urteil eine Bewährungsstrafe, weil er Ministranten Alkohol gegeben, ihnen Pornofilme gezeigt und vor ihnen onaniert hatte. Trotz der Verurteilung blieb H. Priester und weiter in Kontakt zu Kindern und Jugendlichen. Nach Angaben des Rechercheverbunds Correctiv geht aus Kirchenakten hervor, dass H. mindestens 23 Jungen zwischen acht und 16 Jahren sexuell missbrauchte.
Eine zentrale Frage ist, ob Ratzinger etwas von der Vorgeschichte wusste und trotzdem nichts gegen den Einsatz von H. als Priester unternahm. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ zitierte zu Jahresbeginn aus einem internen Kirchendokument einen Satz, der dies vermuten lässt: „Der damalige Erzbischof Joseph Kardinal Ratzinger und sein Ordinariatsrat waren in Kenntnis der Sachlage zur Aufnahme des Priesters H. bereit,“ heißt es in dem außergerichtlichen Dekret aus dem Jahr 2016. Benedikt selbst ließ dies als falsch zurückweisen.
Aus der Zeit des Bekanntwerdens des Missbrauchsskandals der katholischen Kirche in Deutschland im Jahr 2010 gibt es zentrale Aussagen zu dem Fall. Das Erzbistum teilte damals mit, dass 1980 beschlossen worden sei, „H. Unterkunft in einem Pfarrhaus zu gewähren, damit er die Therapie wahrnehmen könne. Diesen Beschluss hat der damalige Erzbischof mit gefasst.“ Demnach wusste Ratzinger zumindest, dass H. eine Therapie bekommen sollte.
Zwei Aussagen aus dem Jahr 2010 unterstützen Benedikts Darstellung, nichts von der Pädophilie des Priesters gewusst zu haben. Der damals 32-jährige Priester H. wurde ab 1980 von dem Psychiater Werner Huth betreut. 2010 sagte Huth der „Süddeutschen Zeitung“: „Soweit ich das beurteilen kann, war Joseph Ratzinger mit dem Fall nicht befasst.“
Im selben Jahr sagte der ehemalige Münchner Generalvikar Gerhard Gruber, Ratzinger habe nichts von der Vorgeschichte von H. gewusst. Gruber hatte 2010 die Verantwortung für den Fall des Priesters übernommen und war zurückgetreten. Das erwartete Gutachten gibt womöglich Aufklärung, ob die Verantwortung tatsächlich bei Gruber lag – oder ob auch Ratzinger welche trägt.