Europa wird von einem der größten militärischen Konflikte seit dem Zweiten Weltkrieg erschüttert. Russlands Präsident Wladimir Putin befahl am Donnerstag einen Großangriff auf die Ukraine. Russische Bodentruppen marschierten aus mehreren Richtungen in das Nachbarland ein und standen am Abend schon kurz vor der Hauptstadt Kiew. Laut jüngsten ukrainischen Angaben starben am ersten Tag der Kämpfe mindestens 137 Menschen. Die EU und die USA kündigten neue Sanktionen gegen Russland an.
Zahlreiche Städte und Militäranlagen in der Ukraine wurden mit russischen Raketen beschossen, Bodentruppen rückten von Belarus im Norden sowie vom Süden und Osten in das Land ein. Russische Truppen eroberten nach ukrainischen Angaben nach heftigen Kämpfen unter anderem einen Militärflugplatz nahe Kiew und den zerstörten Atomreaktor von Tschernobyl.
In einer Videobotschaft in der Nacht zum Freitag sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, dass auf ukrainischer Seite 137 Soldaten und Zivilisten getötet sowie 316 Menschen verletzt worden seien. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind rund 100.000 Menschen in dem Land auf der Flucht.
Selenskyj sagte, dass bereits russische „Sabotagegruppen“ in Kiew aktiv seien. Er befahl per Dekret die Generalmobilmachung aller Reservisten und Wehrdienstpflichtigen.
Putin hatte die Militäroffensive in einer Fernsehansprache in der Nacht zum Donnerstag angekündigt und mit einem angeblichen „Völkermord“ an der russischsprachigen Bevölkerung im Osten der Ukraine begründet. Wenig später waren Explosionen unter anderem in Kiew, der Hafenstadt Mariupol, der Schwarzmeerstadt Odessa und der zweitgrößten ukrainischen Stadt Charkiw zu hören.
Nach Angaben eines westlichen Geheimdienstvertreters erlangte Russland bis zum Abend die „vollständige Lufthoheit“. Die Ukraine habe „keine Luftwaffe mehr, um sich zu schützen“. Das Verteidigungsministerium in Moskau erklärte am Abend, die russischen Kampfeinheiten hätten alle ihre Befehle für den ersten Tag der Invasion „erfolgreich“ ausgeführt.
Selenskyj beklagte mangelnde internationale Unterstützung. „Wer ist bereit, mit uns zu kämpfen? Ich sehe niemanden“, sagte er. „Jeder hat Angst.“
Das US-Verteidigungsministerium sprach vom größten Einmarsch konventioneller Truppen in einen anderen Staat seit dem Zweiten Weltkrieg. Putins Ziel sei es, eine pro-russische Regierung in Kiew zu installieren, sagte ein Pentagon-Vertreter. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin kündigte die Verlegung 7000 zusätzlicher US-Soldaten nach Deutschland an, um die Nato zu stärken.
Die Nato aktivierte ihre Verteidigungspläne. Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte nach einer Dringlichkeitssitzung der 30 Nato-Botschafter, damit könne im Notfall auch die Eingreiftruppe Nato Response Force (NRF) eingesetzt werden, um Mitgliedsländer zu schützen. Sie umfasst bis zu 40.000 Soldaten. Es gebe aber „keine Pläne, Nato-Truppen in die Ukraine zu entsenden“, sagte Stoltenberg.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) warnte Putin vor Angriffen auf osteuropäische Nato-Staaten. Der russische Präsident solle „die Entschlossenheit der Nato nicht unterschätzen, alle ihre Mitglieder zu verteidigen“, sagte Scholz in einer Fernsehansprache.
US-Präsident Joe Biden gab Sanktionen gegen vier russische Banken und Exportkontrollen bekannt. Putin werde nun zu „einem Geächteter auf der internationalen Bühne“, sagte Biden.
Auch die EU kündigte umgehend verschärfte Sanktionen gegen Russland an. Die EU-Staats- und Regierungschefs gaben am Donnerstagabend grünes Licht für ein neues Sanktionspaket. Die Sanktionen betreffen laut einer Gipfelerklärung den russischen Finanz-, Energie- und Transportsektor, den Export von Dual-Use-Gütern, die für zivile und militärische Zwecke genutzt werden können, die Visa-Vergabe für russische Staatsbürger sowie eine Reihe „russischer Einzelpersonen“.
In Russland wurden bei Protesten gegen den Einmarsch in die Ukraine nach Angaben von Aktivisten fast 1700 Menschen festgenommen. Wie die Menschenrechtsorganisation OVD-Info mitteilte, waren trotz eines Demonstrationsverbots tausende Menschen auf die Straße gegangen, vor allem in Moskau und St. Petersburg.