Die Zeiten, als Wolodymyr Selenskyj als ehemaliger Komiker belächelt wurde, der eher durch Zufall ins Präsidentenamt der Ukraine rutschte, sind schon lange vorbei. In der Ukraine-Krise mit Russland zollten viele Partner weltweit dem 44-Jährigen Respekt, nicht zuletzt für sein überlegtes und ruhiges Auftreten. Doch inzwischen ist die Lage auch für den Staatschef persönlich dramatisch: Nach dem russischen Großangriff auf die Ukraine rücken die feindlichen Truppen immer näher an die Hauptstadt Kiew heran – Selenskyj ist dort in Lebensgefahr.
Trotz des russischen Vorrückens will Selenskyj als Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee weiter in der Hauptstadt bleiben, versprach er am Freitagmorgen in einer Videobotschaft. „Nach unseren Informationen hat der Feind mich als Ziel Nummer eins ausgemacht. Und meine Familie als das Ziel Nummer zwei,“ sagte er. Bereits am Donnerstag hatte er in einem Telefonat mit Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer erklärt, er wisse nicht, wie lange er noch am Leben sein werde.
Tatsächlich lässt die russische Führung keinen Zweifel daran, dass es ihr in der Ukraine auch um einen Sturz der politischen Führung geht, die sie als vom Westen gesteuerte „Junta“ brandmarkt. Russlands Präsident Wladimir Putin selbst sagte, Ziel des Militäreinsatzes in der Ukraine sei „die Entmilitarisierung und Entnazifizierung“ des Landes, wobei letzteres offenbar auf staatliche Verantwortungsträger gemünzt ist. Berichten zufolge soll es sogar schon russische „Todeslisten“ mit den Namen ukrainischer Bürger geben.
Berlin und Paris machten am Freitag aus ihrer Sorge um Selenskyjs Leben keinen Hehl. „Es wäre naiv zu sagen, dass er sich nicht in Gefahr befindet“, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit in Berlin. Selenskyj sei „ein sehr mutiger Mann“. Und Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian bot sogar an, den Präsidenten notfalls auszufliegen: „Wir können ihm helfen, falls es nötig wird.“
Viele Ukrainer waren bis vor kurzem auch knapp drei Jahre nach Selenskyjs Wahl nicht von seinen staatsmännischen Fähigkeiten überzeugt. Der Konflikt mit Russland hat ihn jedoch in ein neues Licht gerückt. Selbst als Russland am Donnerstag in das Nachbarland einmarschierte, bewahrte der Staatschef einen kühlen Kopf und rief seine Mitbürger auf, nicht in Panik zu geraten. „Wir sind auf alles vorbereitet, wir werden siegen“, sagte er.
Selenskyjs politische Laufbahn hatte skurril begonnen. Bis zu seiner Wahl zum Präsidenten 2019 hatte der Komiker und Schauspieler keinerlei politische Erfahrung. Sein Weg ins Präsidentenamt ähnelte dem Drehbuch seiner populären Fernsehserie „Diener des Volkes“.
In der Serie spielte er einen Geschichtslehrer, der zum Präsidenten gewählt wird, nachdem sich ein Video, in dem er gegen die Korruption im Lande wettert, im Internet rasant verbreitete. Auch im echten Leben verdankte Selenskyj seine Beliebtheit seinem erfolgreichen Auftritt im Internet. Die weit verbreitete Unzufriedenheit mit dem damaligen Staatschef Petro Poroschenko verhalf ihm zum Wahlsieg.
Doch vom Witze-Reißen zum Führen eines Landes ist es ein großer Schritt. Einige Ukrainer befürchteten deshalb nach dem Amtsantritt des aus der russischsprachigen Industriestadt Krywy Rig stammenden Schauspielers das Schlimmste.
Dass seine ersten Schritte auf dem internationalen politischen Parkett zögerlich ausfielen, stärkte das Vertrauen in ihn nicht. „Ich glaube, unsere internationalen Partner haben es ziemlich schwer mit ihm“, sagte der ukrainische Politologe Mykola Dawydjuk. „Sie spielen auf einem sehr hohen Niveau, das er nicht erreichen kann – und nicht verstehen kann.“
Hinter vorgehaltener Hand zeigen sich Diplomaten nun aber durchaus beeindruckt von der Art und Weise, wie der Ex-Komiker die Krise mit Moskau handhabt. „Ehrlich gesagt, schlägt er sich nicht schlecht“, sagt ein Diplomat. Selenskyj bewahre einen kühlen Kopf. „Er hat einen unmöglichen Job, er ist gefangen zwischen dem Druck sowohl der Russen als auch der Amerikaner.“
Für Selenskyj stellte die Eskalation der Konfrontation mit Moskau einen Wendepunkt in seiner Präsidentschaft dar. Er war 2019 mit dem Versprechen angetreten, den Konflikt mit Moskau um die Ostukraine zu lösen. Doch Putin schoss sich mehr und mehr auf das Nachbarland und dessen Staatschef ein. Nun ist Selenskyj seit Donnerstag mit einem großangelegten russischen Angriffskrieg konfrontiert – der sein Land die politische Unabhängigkeit und ihn selbst nicht nur das Präsidentenamt kosten könnte.