Nach der Ankündigung Russlands, sich im Ukraine-Krieg künftig auf die „Befreiung des Donbass“ konzentrieren zu wollen, befürchtet die Regierung in Kiew eine Zuspitzung der Lage in Mariupol und im Osten des Landes. „Dies bedeutet eine potenzielle oder starke Verschlechterung rund um Mariupol“, sagte der ukrainische Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch in einer auf dem Telegram-Konto des Präsidenten veröffentlichten Videobotschaft. Die ukrainische Armee ging mancherorts unterdessen zum Gegenangriff über.
In der belagerten Hafenstadt Mariupol kämpften die Eingeschlossenen weiter „ums Überleben“, erklärte das ukrainische Außenministerium in der Nacht zum Montag auf Twitter. „Die humanitäre Lage ist katastrophal.“
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte wiederum, es sei weiterhin „unmöglich, Lebensmittel und Medikamente“ in die Stadt zu bringen. „Die russischen Streitkräfte bombardieren die Konvois mit humanitärer Hilfe und töten die Fahrer.“
Zuvor hatte Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk noch gesagt, dass am Sonntag wieder Fluchtrouten mit den russischen Streitkräften vereinbart worden seien, um Menschen aus der belagerten Hafenstadt in Sicherheit bringen zu können. Zuletzt waren mehrere Versuche, sichere Fluchtwege für die Zivilisten einzurichten, gescheitert. Die Kriegsparteien wiesen sich die Schuld daran gegenseitig zu.
Selenskyj warf den Russen erneut vor, etwa 2000 Kinder „entführt“ zu haben. „Wir wissen nicht genau, wo sie sind“, sagte er. „Einige sind bei ihren Eltern, andere nicht.“
Der französische Präsident Emmanuel Macron will am Montag oder Dienstag mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin telefonieren, um dessen Zustimmung für einen „humanitären Einsatz“ in Zusammenarbeit mit Griechenland und der Türkei zu erhalten.
Die Ukrainer könnten nun allerdings hoffen, dass der „Feind“ aus den Regionen Kiew, Tschernihiw, Sumy und Charkiw „vertrieben“ werden könne, sagte der Berater Arestowytsch mit Verweis auf die nördlichen und östlichen Regionen. Die ukrainischen Truppen hätten dort kleine, taktische Gegenangriffe gegen die russischen Truppen gestartet.
Am Sonntag schien sich unter anderem die Kampflinie von der Stadt Mykolajiw im Süden der Ukraine zu entfernen, die Bombenangriffe auf die seit Wochen von der russischen Armee belagerte Stadt schienen nachzulassen. Beim rund 80 Kilometer südöstlich gelegenen Cherson starteten ukrainische Soldaten eine Gegenoffensive.
In Cherson selbst, der einzigen größeren bisher von russischen Truppen eroberten ukrainischen Stadt, protestierten am Sonntag laut Augenzeugenberichten rund 500 Menschen gegen die russischen Besatzungstruppen. Die friedliche Demonstration sei mit Tränengas und Rauchgranaten aufgelöst worden, sagte ein Rettungssanitäter telefonisch der Nachrichtenagentur AFP.
In einem Dorf nahe Cherson wurden nach ukrainischen Angaben zwei Menschen durch russischen Beschuss getötet. Außerdem sei am Stadtrand von Charkiw die Holocaust-Gedenkstätte von Drobyzkyj Jar beschädigt worden, die an 15.000 dort von den Nazis getötete Juden erinnert. Auch in Irpin und rings um Kiew gab es wieder russische Angriffe. Im Gegenzug meldete das ukrainische Verteidigungsministerium die Rückeroberung eines Dorfes nahe der Grenze zu Russland.
Nahe der Großstadt Charkiv im Osten wurden laut Angaben der regionalen Staatsanwaltschaft vom Sonntagabend sieben Menschen durch Artilleriebeschuss getötet, zwei davon sollen Kinder sein. Die ukrainische Armee konnte nach Angaben des Generalstabs aus der Nacht zum Montag in den Regionen Donezk und Luhansk insgesamt „sieben feindliche Angriffen abwehren“. Dabei seien acht russische Panzer zerstört worden. Das russische Verteidigungsministerium erklärte wiederum, ein Raketendepot bei Kiew zerstört zu haben.
Russlands Vize-Generalstabschef Sergej Rudskoj hatte am Freitag überraschend angekündigt, künftig werde sich die Armee auf die „Befreiung“ der Donbass-Region in der Ostukraine konzentrieren. Bisher lautete das erklärte Kriegsziel des Kreml, die gesamte Ukraine zu „entnazifizieren“, die ukrainischen Streitkräfte zu zerschlagen und Staatschef Wolodymyr Selenskyj zu stürzen.