80 Jahre, nachdem Babyn Jar zum Schauplatz eines Massakers der Wehrmacht an mehr als 33.000 ukrainischen Juden wurde, richtet sich die öffentliche Aufmerksamkeit erneut auf den symbolträchtigen Ort in Kiew: Fünf Menschen starben bei einem russischen Luftangriff auf einen Fernsehturm in der ukrainischen Hauptstadt ganz in der Nähe der Schlucht von Babyn Jar am Dienstag.
Einen Tag später liegen dort noch immer die Leichen der fünf Opfer, bedeckt von einer dünnen Schneeschicht. Seit dem russischen Luftangriff am Dienstagnachmittag hat es niemand gewagt, sich den Toten zu nähern. „Uns wurde gesagt, wir sollten uns fernhalten, weil russische Saboteure vor Ort sein könnten, um ihre Arbeit zu vollenden“, sagt Wolodymyr Rudenko, der sich freiwillig für die Verteidigung seines Landes gemeldet hat.
Die ganze Nacht wachte der 50-Jährige Anwalt ganz in der Nähe des Einschlagsorts und wartete auf die Leichenbeschauer. Am Morgen trifft schließlich ein Militärtransporter ein, sichtlich bestürzte Soldaten springen aus dem Fahrzeug und kämpfen in der Kälte unbeholfen mit einer grauen Plastikplane, um die verkohlten Leichname abzudecken.
Ersten Erkenntnissen zufolge wurde bei dem Angriff nach Polizeiangaben eine ganze Familie ausgelöscht: Vater, Mutter sowie Tochter und Sohn im Teenageralter. Die vier verließen gerade einen Lebensmittelladen, in dem sie sich kurz vor der Ausgangssperre noch mit dem Nötigsten versorgen wollten, als die Rakete einschlug.
Die zertrümmerten Fenster und Regale des Geschäfts zeugen einen Tag später von der Wucht des Einschlags. Bei dem fünften Opfer handelt es sich um einen Journalisten des staatlichen Fernsehens. Ein entsprechender Presseausweis wurde bei dem Toten gefunden.
Der Fernsehturm, der im Nebel dieses kalten Tages beinahe verschwindet, ist von der Explosion geschwärzt, steht aber noch. Am Fuße der 300 Meter hohen Metallkonstruktion liegen in einem Umkreis von dutzenden Metern Trümmer verstreut. „Dieser Turm ist unser Symbol für Wahrheit, für freie Information, für echte Nachrichten“, sagt Rudenko. „Es ist unsere Wahrheit, die sie angreifen wollen.“
Doch der Ort ist auch in anderer Hinsicht höchst symbolträchtig. In unmittelbarer Nähe erschossen, deutsche Polizisten, Wehrmachtangehörige und SS-Kommandos am 29. und 30. September 1941 mehr als 33.000 ukrainische Juden. Bis 1943 wurden in dem Gebiet bis zu 100.000 Menschen getötet – Juden, Roma und sowjetische Kriegsgefangene.
Die Gedenkstätte, ein etwa einen Kilometer entfernt liegender Park, wurde bei dem Angriff nicht direkt getroffen. Die Skulpturen zum Gedenken an die Opfer in dem Birkenwald, unter anderem eine riesige Menora, sind unversehrt.
Doch die Betroffenheit in der Ukraine ist groß: Präsident Wolodymyr Selenskyj, der selbst Jude ist, warf Russland am Mittwoch vor, die Ukraine und ihre Geschichte „auslöschen“ zu wollen. Er rief Juden in aller Welt auf, nicht länger zu „schweigen“.
Auch der Oberrabbiner der Ukraine, Mosche Asman, ist entsetzt. „Ich kann nicht glauben, was ich sehe“, sagt er. Der russische Angriff sei ein „schreckliches Kriegsverbrechen“. Vor einem Monat, auf einer Gedenkfeier in Babyn Jar, hatte Asman noch gewarnt: „Ein Krieg ist leicht zu beginnen, aber sehr schwer zu beenden.“