Andrij Charlamow ist eigentlich Bariton an der berühmten Oper von Odessa, Inga Kordynowska arbeitet als Anwältin. Doch nun füllt der Sänger Sandsäcke ab und erlernt den Gebrauch von Waffen, Kordynowska ihrerseits überwacht die Verteilung von Hilfsgütern an tausende Menschen in ihrer Stadt. Zahlreiche Einwohner Odessas übernehmen derzeit völlig neue Aufgaben, um ihre Heimatstadt auf einen möglichen Angriff der russischen Armee vorzubereiten.
In der Nähe der historischen Innenstadt von Odessa ist ein altes Theater in ein Zentrum für humanitäre Hilfe umgewandelt worden. Doch die Vergangenheit des Gebäudes wird auf einmal spürbar, als Charlamow und ein Opernkollege traditionelle ukrainische Lieder anstimmen, um die vielen Helferinnen und Helfer zu motivieren.
Die meisten Freiwilligen sind junge Frauen, sie tragen orangene Westen. Als die beiden Sänger begleitet von einem Akkordeonspieler die ukrainische Nationalhymne singen, treten einer Frau Tränen in die Augen. Sie läuft in eine Ecke, um ihr Gesicht zu verbergen. Dort hängt auch ein Foto des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, jemand hat dessen Ausspruch „Unsere Nation steht nicht zum Verkauf“ dazu geschrieben.
„Wir bringen ihnen soviel Freude wie wir können“, sagt Charlamow zu seiner Gesangseinlage. „Diese Menschen arbeiten hart, mit Patriotismus und Selbsthingabe, aber sie leiden, daher sind wir gekommen, um sie für ein paar Minuten aufzumuntern.“
Der Bariton hatte in den vergangenen Jahren einen vielversprechenden Karrierestart hingelegt, er gewann schon einige Preise. Doch der russische Einmarsch in sein Heimatland hat alles verändert.
„Ich habe einen militärischen Grundkurs absolviert, auch einen in Erster Hilfe“, sagte Charlamow. Er sei zum Kampf bereit – natürlich hoffe er, dass dieser Fall nicht eintrete. Aber so oder so, er wolle jetzt schon helfen.
So geht es auch allen anderen in dem Zentrum für humanitäre Hilfe. Den ganzen Tag ist das Geräusch von Klebeband zu hören, das abgerissen und angebracht wird. Freiwillige verpacken Nahrungsmittel, Hygieneprodukte, Medizin und Unterwäsche in Pakete. Diese sollen an Soldaten gehen und auch an Flüchtlinge, die aus anderen Landesteilen nach Odessa gekommen sind.
Gestartet wurde das Projekt von der Anwältin Kordynowska, die unter anderem auf die Hilfe benachbarter Restaurants zählen kann. So werden in dem alten Theater nach ihren Angaben derzeit jeden Tag 5000 Menschen mit Essen versorgt.
Rund 300 freiwillige Helfer sind im Einsatz. „Es sind ganz unterschiedliche Menschen, aus verschiedenen sozialen Schichten, verschiedenen Altersgruppen, mit unterschiedlichen Geisteshaltungen“, sagt die Anwältin. Alle hätten nur ein Ziel: „Wir wollen diesen Krieg beenden, wir wollen unsere Häuser und unser Leben retten, wir wollen alle, die wir hier lieben, schützen – bis wir gewonnen haben.“