Zwischen London und Paris ist ein Streit über den britischen Umgang mit den Flüchtlingen aus der Ukraine entbrannt, die vom nordfranzösischen Calais aus nach Großbritannien weiterreisen wollen. In einem Brief an seine britische Kollegin Priti Patel beklagte Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin einen „Mangel an Menschlichkeit“ der britischen Behörden, die sich bei der Visa-Vergabe stur stellten. Der britische Justizminister Dominic Raab wies die Vorwürfe zurück.
Darmanin warf London einen „komplett unangemessenen“ Umgang mit ukrainischen Flüchtlingen vor, die in den vergangenen Tagen im nordfranzösischen Calais angekommen seien und von dort zu Angehörigen in Großbritannien weiterreisen wollten. 150 der vor dem Krieg Geflüchteten wurden demnach an den Grenzposten aufgefordert, nach Paris oder Brüssel zu fahren, um in den dortigen britischen Konsulaten Visa für das Vereinigte Königreich zu beantragen.
Großbritannien müsse in Calais echte konsularische Dienste anbieten, forderte Darmanin. „Es ist unerlässlich, dass Ihre konsularische Vertretung – ausnahmsweise und für die Dauer dieser Krise – Visa für die Familienzusammenführung vor Ort in Calais ausstellen kann“, schrieb der Innenminister am Samstag an seine Kollegin. Es sei „nicht nachvollziehbar“, dass das Vereinigte Königreich in der Lage sei, solche Dienste an der polnisch-ukrainischen Grenze anzubieten, nicht aber in seinem direkten Nachbarland Frankreich.
„Unsere Küsten waren Szenen so vieler Tragödien“, schrieb Darmanin mit Blick auf die zahlreichen Flüchtlinge und Migranten, die jährlich bei dem gefährlichen Versuch sterben, über den Ärmelkanal von Frankreich nach Großbritannien zu gelangen. „Lassen Sie uns nicht diese ukrainischen Familien noch zu ihnen hinzufügen.“ Am Sonntag legte Darmanin nach und warf der britischen Regierung in den Sendern Europe 1 und Cnews Hinhaltetaktik in der Frage vor.
Der britische Justizminister Raab verteidigte das britische Vorgehen. Großbritannien könne nicht einfach die Tore öffnen, sagte er dem britischen Rundfunksender BBC. Ein derartiger Schritt helfe den „echten Flüchtlingen“ nicht, zudem könne er die Unterstützung der britischen Bevölkerung untergraben, führte Raab weiter aus.
Die Flüchtlingsproblematik am Ärmelkanal belastet die Beziehungen zwischen Großbritannien und Frankreich schon länger. Befeuert worden waren die Spannungen durch ein schweres Bootsunglück im November, bei dem 27 Flüchtlinge ums Leben gekommen waren. Paris und London hatten sich damals gegenseitig vorgeworfen, nicht genug gegen Schlepperbanden zu unternehmen.
Nach UN-Angaben sind seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine mehr als 1,5 Millionen Menschen aus dem Land geflohen. Der größte Teil von ihnen wurde bislang vom Nachbarland Polen aufgenommen.