Wird Kreml-Chef Putin eines Tages auf der Anklagebank eines internationalen Tribunals sitzen?

Wladimir Putin - Bild: Rafael Poch de Feliu/CC BY-NC-ND 2.0
Wladimir Putin - Bild: Rafael Poch de Feliu/CC BY-NC-ND 2.0

Bombenangriffe auf Krankenhäuser und Theater, Streubombeneinsätze und zuletzt die Gräueltaten von Butscha: Der Westen hat die mutmaßlichen russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine scharf verurteilt, die Ukraine spricht sogar von Völkermord. Wird Kreml-Chef Wladimir Putin eines Tages auf der Anklagebank eines internationalen Tribunals sitzen — und falls ja, wegen welchem Straftatbestand?

Vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) läuft bereits ein Ermittlungsverfahren wegen möglicher Kriegsverbrechen in der Ukraine. Denkbar wären aber auch Anklagen wegen weiterer Verbrechen – ein Überblick:

Das Völkerstrafrecht

Als Geburtsstunde des Völkerstrafrechts gelten die Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg. Geahndet werden können die Kernverbrechen des Völkerrechts – Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression – vor dem IStGH – vorausgesetzt, die Taten ereigneten sich auf dem Territorium eines Vertragsstaats oder wurden von einem Angehörigen eines Vertragsstaats begangen. Auch der UN-Sicherheitsrat kann Fälle an den IStGH überweisen.

Weder Russland noch die Ukraine sind Vertragsstaaten des IStGH. „Die Ukraine hat jedoch nach der Krim-Annexion 2014 ad hoc die Gerichtsbarkeit des IStGH für alle Verbrechen auf ihrem Territorium anerkannt. Daher kann der IStGH im Falle des Ukraine-Krieges tätig werden, obwohl die Ukraine nicht Vertragspartei ist“, sagt Christina Binder, Völkerrechtsprofessorin an der Universität der Bundeswehr in München.

Ausgenommen ist der erst 2017 ins Völkerstrafrecht eingeführte Tatbestand der Verbrechen der Aggression. „Um wegen des spezifischen Verbrechens der Aggression Anklage gegen Russland zu erheben, müsste auch Russland die Jurisdiktion des IStGH anerkennen.“

Kriegsverbrechen

Grundlage für die Bewertung von Kriegsverbrechen sind die Genfer Konventionen und das Statut des IStGH. „Kriegsverbrechen liegen einerseits vor, wenn vorsätzlich auf zivile Objekte oder die Zivilbevölkerung abgezielt wird.“ Andererseits liegen sie vor, wenn durch Angriffe auf militärische Ziele ein unverhältnismäßiger „Kollateralschaden“ entsteht, wie Binder erläutert.

Dass es sich bei den Gräueltaten von Butscha um Kriegsverbrechen und möglicherweise um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handele, liege „ganz eindeutig“ nahe, sagt die Völkerrechtlerin. Die bisherige Dokumentation, etwa durch Satellitenbilder, weise zudem auf die Verantwortung der russischen Besatzungstruppen hin.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Damit eine Tat als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden könne, müsse nachgewiesen werden, „dass unmenschliche Handlungen im Rahmen eines ausgedehnten systematischen Angriffs stattgefunden haben“, sagt Beate Streicher, Expertin für Völkerstrafrecht bei Amnesty International in Deutschland. Amnesty-Teams werten demnach derzeit Quellen zu möglichen Völkerrechtsverbrechen in der Ukraine aus. Ziel sei es, dass diese Dokumentation später „auch in mögliche Gerichtsverfahren einfließen“ könne.

Allerdings: In der Beweisführung von Völkerrechtsverbrechen bestehe die Schwierigkeit oft weniger in der Dokumentation als in der „konkreten Zuschreibung und im Nachvollziehen der Befehlskette“, sagt Binder.

Der IStGH kann nur über Individuen und nicht über Staaten urteilen. Für die Beweisführung bedeutet das, dass der Befehlsgeber hinter einem Völkerrechtsverbrechen eindeutig überführt werden muss.

Völkermord

Laut Artikel 6 des IStGH-Statuts ist Völkermord oder Genozid eine Gewalttat, die „in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Die Ukraine sieht diesen Straftatbestand in den Fällen Butscha und Mariupol erfüllt.

Dieser Vorwurf könne „momentan“ nicht verifiziert werden, sagt Amnesty-Expertin Streicher. Sie verweist auf teils widersprüchliche Aussagen in der Kriegskommunikation des Kreml. Gegen eine Anklage wegen Völkermords könnte demnach sprechen, dass Putin von Russen und Ukrainern als „einem Brudervolk“ spreche. Zugleich könnte er den Ukrainern damit „eine eigene Identität absprechen“.

Binder verweist auf die Schwierigkeit, bei Völkermord das „subjektive Tatbestandselement“ nachzuweisen, also die Absicht zur Zerstörung einer bestimmten Gruppe. Juristisch gesehen seien Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit „genauso schlimme Verbrechen“ wie Völkermord, betont sie. Von Völkermord gehe allerdings eine besondere politische Signalwirkung aus. „Der Begriff des Völkermords rüttelt die internationale Gemeinschaft stärker auf und erhöht den moralischen Druck, mehr politische Unterstützung bereitzustellen.“

Putin auf der Anklagebank?

Dass es zu einem Verfahren wegen Völkerrechtsverbrechen im Ukraine-Krieg vor dem IStGH kommt, hält Binder für „durchaus realistisch“. Fraglich sei allerdings, „ob man die Befehlsketten bis hin zu Putin wird nachweisen können“.

Auch Streicher hält es „nicht für ausgeschlossen“, dass Putin oder andere russische Vertreter sich eines Tages tatsächlich vor einem internationalen Strafgericht verantworten müssen. Eine hohe „faktische Hürde“ bestehe jedoch darin, dass Angeklagte zunächst gefasst werden müssten. Denn ohne die Anwesenheit der Angeklagten könne ein internationaler Strafprozess grundsätzlich nicht stattfinden.

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