Mit 19 Jahren Stadtverordneter, mit 31 Jahren CDU-Generalsekretär und mit 46 Jahren Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen: Der Lebenslauf von Hendrik Wüst liest sich wie eine parteipolitische Bilderbuchkarriere. Als Regierungschef trat er im Oktober in die Fußstapfen seines Vorgängers Armin Laschet, der nach seiner gescheiterten Kanzlerkandidatur als einfacher Abgeordneter in den Bundestag einzog. Mit seinen 46 Jahren zählt Wüst zu den jüngsten Ministerpräsidenten in der Geschichte Nordrhein-Westfalens.
Geboren wurde Wüst in der westfälischen Kleinstadt Rhede, wo er auch seine ersten Schritte in der Politik machte. Mit 15 Jahren trat er der Jungen Union bei, später übernahm er deren Landesvorsitz. Nach dem Abitur studierte er Jura und wurde 2003 als Rechtsanwalt zugelassen. 2005 zog Wüst als damals jüngster CDU-Abgeordneter in den Düsseldorfer Landtag ein. Nur ein Jahr später stieg er zum Generalsekretär auf. Ins schwarz-gelbe Kabinett unter Laschet wurde er 2017 als Verkehrsminister berufen.
Im nordrhein-westfälischen Parlament machte er sich wegen regelmäßiger verbaler Schlagabtausche einen Ruf als Kämpfernatur. Seit seiner Wahl zum Ministerpräsidenten gibt er sich jedoch ruhig und bedacht. In seinen Reden scheint er sich selbst zu bremsen und legt staatsmännische Pausen ein, wo er früher vielleicht lauter geworden wäre.
Auch in der „Wahlarena“ im Westdeutschen Rundfunk, dem Fernsehfünfkampf der Spitzenkandidaten, wartet er höflich ab, bis er an der Reihe ist. Während sein SPD-Herausforderer Thomas Kutschaty wild gestikuliert, steht der Ministerpräsident fast unbeweglich an seinem Pult. Als er einmal das Gesicht verzieht, wird er gefragt, ob er aufgebracht sei, worauf er entgegnet: „Ich bin ganz aufgeräumt und fröhlich.“
Die Rolle des besonnenen Landesvaters scheint er dieser Tage wie auf Kommando an- und ausknipsen zu können. Zu beobachten ist dieser Effekt etwa auf Wahlkampftour in seiner westfälischen Heimat. Wie ein Alleinunterhalter läuft er vor vollbesetzten Reihen in der Halle eines landwirtschaftlichen Betriebs auf und ab. Er witzelt über aus Berlin angereiste Journalisten, die nicht wüssten, in welcher Himmelsrichtung Rhede von Hamminkeln aus gesehen liegt.
Als er in einem Nebensatz sein Alter erwähnt, ruft eine ältere Frau aus dem Publikum, dass er sich „gut gehalten“ habe. Wüst greift das Kompliment auf und erntet einen von vielen Lachern an diesem Tag. Für ihn ist der Auftritt im Münsterland ein Heimspiel – ganz gleich, ob er vor betagten Landwirten mit Schiebermützen oder Anhängern der Jungen Union in Kapuzenpullovern spricht.
Bei solchen Wahlkampfterminen in der Heimat schlägt ihm wenig Kritik entgegen. Ob und wie stark ihm möglicherweise der kürzliche Rücktritt seiner Kabinetts- und Parteikollegin Ursula Heinen-Esser schadete, ist bislang unklar. Nach heftiger Kritik im Zusammenhang mit einer umstrittenen Mallorca-Reise nach der Jahrhundertflut trat sie Anfang April von ihrem Amt als Umweltministerin zurück.
Heinen-Esser war nach der Flut in ihren Urlaub zurückgekehrt und offenbar länger auf der Ferieninsel geblieben, als sie später selbst im parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Katastrophe angab. Zwei weitere CDU-Landesminister, Bauministerin Ina Scharrenbach und Europaminister Stephan Holthoff-Pförtner, statteten ihr ebenfalls einen Besuch auf Mallorca ab. Im Zuge der Affäre wurde auch die Frage lauter, wann Ministerpräsident Wüst davon wusste, was aber weiterhin unklar ist.
Negativen Schlagzeilen setzt Wüst eine gekonnte Selbstinszenierung entgegen. Bereits seit seiner Zeit als Verkehrsminister präsentiert er sich vor allem in Onlinenetzwerken als entspannter, nahbarer Politiker von nebenan. Mal radelt er im Anzug mit dem Liegefahrrad durch die Gegend, mal sieht man ihn im T-Shirt beim Heimwerken, mal liest er mit seiner im vergangenen Frühjahr geborenen Tochter in der Babytrage ein Buch.
In Umfragen zur Landtagswahl lag Wüsts CDU zuletzt nur knapp vor der SPD. Im hypothetischen Szenario einer Direktwahl schnitt der amtierende Ministerpräsident zwar etwas besser ab als sein SPD-Herausforderer Kutschaty, der Abstand verringerte sich jedoch stetig. Kurz vor der Landtagswahl scheint somit alles offen.