Die Nachricht kam für viele überraschend: Mitten in der Ukraine-Krise kündigt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg einen Karrierewechsel an. Der Norweger wird zum Jahresende Notenbankchef seines Heimatlandes. Für Nato-Insider war längst ausgemacht, dass der 62-Jährige nach fast acht Jahren an der Spitze des transatlantischen Militärbündnisses keine dritte Amtszeit anstrebt. Seine Nachfolge könnte erstmals in der gut 70-Jährigen Nato-Geschichte an eine Frau gehen.
Gegenseitige Drohungen zwischen der Nato und Russland und fieberhafte diplomatische Bemühungen um Frieden in der Ukraine: Der erfahrene Nato-Kapitän Stoltenberg geht in stürmischen Zeiten von Bord. Sein Antritt bei der norwegischen Zentralbank soll „um den 1. Dezember“ herum erfolgen. Ob der Konflikt mit Russland bis dahin beigelegt ist, gilt als völlig offen.
In enger Abstimmung mit US-Präsident Joe Biden und anderen Bündnispartnern hatte Stoltenberg Russland in den vergangenen Wochen immer wieder vor einem Einmarsch in der Ukraine gewarnt. Dies werde einen „hohen Preis“ haben, betonte der Norweger mantraartig. Im Bündnis werden seit Wochen unterschiedliche Szenarien im Fall eines russischen Angriffs durchgespielt, wie Stoltenberg zuletzt verriet.
Auch vor der aktuellen Krise musste Stoltenberg immer wieder den Fels in der Brandung spielen. Etwa beim chaotischen Nato-Abzug aus Afghanistan im August. Oder in der erregten Debatte um den „Hirntod“ der Nato, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron diagnostizierte – als Antwort auf den früheren US-Präsidenten Donald Trump, der die Organisation als „obsolet“ bezeichnet hatte. Nicht zu vergessen der Dauerstreit um höhere Verteidigungsausgaben, in dem nicht nur Trump Deutschland wiederholt unter Druck setzte.
Stoltenbergs Abgang ebnet nun womöglich den Weg für eine Frau. Im Bündnis ist es ein offenes Geheimnis, dass sich auch die Nato auf diese Weise ein zeitgemäßes Antlitz verleihen will. Selbst wenn sich noch keine Favoritin herauskristallisiert hat: An erfahrenen Kandidatinnen mangelt es nicht. Zahlreiche der 30 Mitgliedsländer haben inzwischen eine Verteidigungsministerin.
Als der Sozialdemokrat Stoltenberg den Nato-Posten im Oktober 2014 antrat, waren die Zeiten nicht minder bewegt als heute: Russland hatte gerade die Krim annektiert und unterstützte mehr oder weniger offen pro-russische Separatisten in der Ostukraine. Entschlossen setzte Stoltenberg daraufhin die von der Nato beschlossene Verstärkung in Osteuropa um – die Moskau ebenso Dorn im Auge ist wie eine mögliche Aufnahme der Ukraine und Georgiens in das Bündnis.
Dem ehemaligen norwegischen Regierungschef gelangen auch einige Neuerungen bei der Nato: So hat das Bündnis eine schnelle Eingreiftruppe mit inzwischen bis zu 40.000 Soldatinnen und Soldaten. Bei seinem letzten Nato-Gipfel Ende Juni in Madrid will Stoltenberg als eine Art Vermächtnis ein neues strategisches Konzept unter Dach und Fach bringen, das Handhabe für Cyberangriffe und andere Herausforderungen liefern soll.
In jungen Jahren hätte Stoltenberg wohl niemand vorhergesagt, dass er einmal an der Spitze des mächtigsten Militärbündnisses der Welt stehen würde: Als Teenager zertrümmerte er aus Protest gegen den Vietnamkrieg die Fenster der US-Botschaft in Oslo, als junger Sozialdemokrat mit wehender schwarzer Mähne wetterte er wütend gegen die Nato.
Doch die Politik war Stoltenberg quasi in die Wiege gelegt: Seine Mutter war Staatssekretärin, sein Vater brachte es bis zum Außenminister. 1993 bekam er seinen ersten Ministerposten, im Jahr 2000 wurde er mit 41 Jahren Norwegens Ministerpräsident. Von 2005 bis 2013 folgten zwei weitere Amtszeiten.
Bekannt auch außerhalb Norwegens wurde Stoltenberg nach dem Massaker von Utöya im September 2011: Damals gelang es ihm, sein schockiertes Land zu trösten. Als Zentralbankchef dürfte sein Leben deutlich ruhiger werden. Kämpfen muss er dann „nur“ noch mit Zahlen und Bilanzen.