Tausende Facebook-Nutzerinnen und Nutzer haben seit Anfang Februar die Behauptung geteilt, wonach wegen eines Urteils des Wiener Verwaltungsgerichts die Corona-Maßnahmen für alle nachweislich Genesenen in Österreich nicht mehr gelten würden. Das Urteil ist laut Verwaltungsgericht und zwei Juristen jedoch eine Einzelfall-Entscheidung, die keinerlei Auswirkungen auf die Corona-Maßnahmen im Allgemeinen oder auf andere Menschen als den Kläger in Österreich hat. Das Wiener Verwaltungsgericht kann zudem nicht Gesetze oder Verordnungen aufheben. Das kann nur der österreichische Verfassungsgerichtshof.
Tausende Nutzerinnen und Nutzer haben die Behauptung seit dem 1. Februar 2022 auf Facebook geteilt (hier, hier, hier). Auch Blogs wie „Neue Wahrheit“ und das rechte Portal „Wochenblick“ verbreiteten zuvor die Behauptung. Auf Telegram erreichte die Behauptung Zehntausende (hier, hier).
Die irreführende Behauptung
„Wer Antikörper hat oder genesen ist, für den ist die Pandemie zu Ende!“, schreibt ein User, „Wochenblick“ bezeichnet das Urteil als „bahnbrechend“. Das Verwaltungsgericht Wien gab zuvor der Beschwerde eines Mannes recht, der sich gegen die Anzeige wegen eines Maskenverstoßes vor Gericht wehrte. Die Postings folgern daraus: „Wer also einen Nachweis besitzt, dass er Antikörper im Blut hat, oder nachweisen kann, dass er von C-19 genesen ist, kann niemanden anstecken, und somit finden Verordnungen aus dem Covid-19-Maßnahmengesetz für diese Menschen keine Anwendung mehr!“
Das steht im Urteil
Der Blogartikel zeigt einzelne Textpassagen aus dem Urteil anonymisiert und ohne Geschäftszeichen. Darin steht, dass einem Herrn G. vorgeworfen wird, bei einer Versammlung am 31. Januar 2021 in Wien keine Maske getragen zu haben, was einen Verstoß gegen die damals in Österreich geltende 3. Covid-19-Notmaßnahmenverordnung bedeute. Ziel der Verordnung ist die Verhinderung der Ausbreitung von Corona.
Darauf stellt Herr G. ab. Da er einen Antikörpernachweis gehabt hätte, sei er überhaupt nicht ansteckungsfähig gewesen, argumentierte er. Somit stelle er kein Verbreitungsrisiko dar, die Regel gelte für ihn folglich nicht.
Das Wiener Verwaltungsgericht hat das Verfahren gegen Herrn G. tatsächlich eingestellt. Wesentliche Entscheidungsgründe waren laut den auf “Neue Wahrheit” veröffentlichten Passagen, dass dem Beschwerde-Widerspruch „nicht vollständig entgegengetreten“ werden könne und dass schon die „konkrete Tatbegehung durch den Beschwerdeführer nicht zweifelsfrei erwiesen“ werden konnte.
Das bedeutet das Urteil
AFP hat am 3. Februar 2022 beim Wiener Verwaltungsgericht nach der Echtheit der Textpassagen gefragt. Margarethe Ebner, Richterin am Verwaltungsgericht Wien, bestätigte im Telefonat die Echtheit der geteilten Passagen.
Üblicherweise erscheinen Urteile in einer Rechtsdatenbank. Dort ist dieses Urteil mit dem Geschäftszeichen VGW 031 091 9977 2021 noch nicht zu finden. In den nächsten Wochen würde es laut Ebner dort aber noch veröffentlicht werden.
Ebner sagte zu den im Blog veröffentlichten Textpassagen: „Das Urteil ist verkürzt wiedergegeben. Es sind nicht alle Entscheidungsgründe aufgeführt.“ Auch ein unklarer Sachverhalt könnte ein Grund für eine Einstellung des Verfahrens sein. Sie erklärte weiter:
„Das ist und bleibt eine Einzelfallentscheidung. Das Urteil ist auf keinen Fall allgemeingültig, es gilt nur für diesen Einzelfall. Es hebelt nicht die Verordnungen und Gesetze aus – das ist kein Freibrief für andere.“
Der verhandelnde Richter habe im Zweifel für Herrn G. entschieden, für eine Entscheidung gegen ihn lagen zu wenige Beweise auf dem Tisch. Die Frage der Beweiswürdigung hänge immer vom einzelnen Sachverhalt und Richter ab. „Andere Richter kommen vielleicht zu einer anderen Entscheidung“, erklärte Ebner.
Kein „Ende der Pandemie“ für Menschen mit Antikörpern
Dass die Entscheidung nicht allgemeingültig ist, bestätigte auch Karl Stöger, Professor für Medizinrecht am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien. In einem Telefonat mit AFP am 4. Februar sagte er: „Dieses Urteil ist eine Einzelfallentscheidung. Die Maßnahmen gelten unabhängig vom Status genesen, geimpft, getestet.”
Das sieht auch Peter Bußjäger so. Er ist Professor am Institut für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre an der Universität Innsbruck und schrieb in einer E-Mail am 4. Februar: „Weder kann das Verwaltungsgericht eine Verordnung aufheben noch ihre Nichtgeltung erklären. Es kann allerdings eine Verordnung und somit auch die geltenden Corona-Beschränkungen interpretieren – aber auch dies nur im Einzelfall.“
Stöger ergänzte: „Die Covid-Verordnung aufzuheben, ist nicht Aufgabe des Verwaltungsgerichts, sondern des Verfassungsgerichtshofs in Österreich. Das Urteil geht nicht über den Einzelfall hinaus. Maßnahmen für die Allgemeinheit kann das Verwaltungsgericht nicht kippen.“
Keine zukünftige Maskenbefreiung
Nicht nur für andere Menschen in Österreich hat das Urteil keine allgemeingültige Wirkung, auch für Herrn G. nicht. Stöger erklärte dazu: ”Geklärt ist nur, dass der Bürger für diesen einen Zeitpunkt nicht verurteilt werden kann.“
Er hat zwar seinen Widerspruch gegen die Strafanzeige gewonnen, von der Maske befreit ihn das in Zukunft aber nicht, erklärt auch Bußjäger: „Der Betroffene kann ohne Weiteres bei der nächsten Veranstaltung wieder bestraft werden, wenn die Behörde der Meinung ist, dass eine Verwaltungsübertretung vorliegt. Er kann dagegen neuerlich eine Beschwerde an das Verwaltungsgericht machen.“
Bußjäger betont: “Das Urteil entfaltet nur Bindungswirkung im konkret entschiedenen Fall. Sogar derselbe Richter könnte – rein theoretisch – in einer neuerlichen Entscheidung zu einem anderen Ergebnis gelangen.”
Das sagt der Autor des Blogartikels
AFP hat auch den Autor des Blogartikels von „Neue Wahrheit“ zu seiner Behauptung befragt. In einer E-Mail räumte Jürgen Lessner am 4. Februar ein: „Natürlich ist es eine Einzelentscheidung. Natürlich haben wir in Österreich kein präjudizielles Recht.“ Seiner Meinung nach sei aber der juristische Weg zum Verfassungsgerichtshof damit geöffnet.
Fazit
Die Behauptung, dass ein Urteil des Wiener Verwaltungsgerichts eine Corona-Verordnung für Genesene und Menschen mit Antikörpernachweis aufgehoben habe, ist irreführend. Das Wiener Verwaltungsgericht hat in einem Einzelfall eine Strafanzeige wegen einer nicht getragenen Maske bei einer Veranstaltung fallen gelassen. Weder für den Angeklagten selbst, noch für andere Menschen in Österreich bedeutet dieses Urteil eine Aufhebung oder Änderung der Corona-Verordnung. Das Verwaltungsgericht Wien kann diese Verordnung und Gesetze auch überhaupt nicht aufheben. Das kann laut zwei Juristen nur der Verfassungsgerichtshof.