Nach der russischen Ankündigung einer Feuerpause für Mariupol sind die Evakuierungsbemühungen angelaufen. Kiew schickte am Donnerstag dutzende Busse in die belagerte Hafenstadt im Süden der Ukraine, um damit Zivilisten aus der Stadt zu bringen. Die Nato erklärte, trotz der Ankündigung Moskaus sehe sie keinen Truppenrückzug um die Hauptstadt. Nach Einschätzung des ukrainischen Staatschefs Wolodymyr Selenskyj gruppieren sich die russischen Streitkräfte um, damit sie im Osten stärker angreifen können.
In der vergangenen Nacht sei die ukrainische Regierung vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) informiert worden, „dass Russland bereit ist, den Zugang für humanitäre Konvois aus Mariupol zu öffnen“, schrieb Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk am Donnerstagvormittag im Onlinedienst Telegram. Kiew habe 45 Busse in die Region gesendet.
Das Rote Kreuz teilte mit, es bereite sich darauf vor, am Freitag die sichere Ausreise von Zivilisten aus der Stadt zu ermöglichen. Das russische Verteidigungsministerium hatte am Vortag eine Feuerpause für die Hafenstadt angekündigt. Diese sollte den Angaben zufolge am Donnerstag ab 10.00 Uhr Ortszeit (09.00 Uhr MESZ) gelten.
Mariupol ist seit Wochen von jeglicher Versorgung abgeschnitten und wird von den russischen Streitkräften heftig beschossen. Die Stadt ist mittlerweile weitgehend zerstört, rund 160.000 Bewohner sollen aber weiterhin dort festsitzen. Nach ukrainischen Angaben wurden dort mindestens 5000 Menschen seit Beginn der russischen Angriffe vor mehr als einem Monat getötet.
Ungeachtet der Ankündigungen Russlands, seine Truppen im Norden „radikal“ zu reduzieren, erwartet die Nato weitere Angriffe in der Ukraine. Nach Erkenntnissen des Bündnisses „ziehen sich russische Einheiten nicht zurück, sondern positionieren sich neu“, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Brüssel. Russland halte den Druck auf Kiew und weitere Städte aufrecht. Es sei „also mit weiteren Offensivaktionen“ zu rechnen, fügte Stoltenberg hinzu.
Russland versuche „höchstwahrscheinlich“, seinen Einsatz in der Donbass-Region umzugruppieren und zu verstärken. Ähnlich hatte sich Selenskyj am Mittwochabend geäußert und vor einer verstärkten Offensive der Russen im Donbass gewarnt. „Wir glauben niemandem, keiner einzigen schönen Phrase“, sagte der Staatschef in seiner abendlichen Ansprache.
Russland hatte in dieser Woche angekündigt, Militäraktivitäten in der Region um die ukrainische Hauptstadt Kiew und in der Gegend um die Stadt Tschernihiw im Norden der Ukraine deutlich zurückzufahren. Mit neuen Angriffen auf Tschernihiw sowie Mariupol im Süden machte Russland dann aber Hoffnungen auf eine Entspannung der Lage zunichte. Die USA hatten bereits am Dienstag gewarnt, es handele sich nicht um einen „Rückzug“ russischer Truppen, sondern um eine „Neupositionierung“. Es drohe eine „Großoffensive gegen andere Regionen in der Ukraine“.
Militärexperten sind jedoch der Ansicht, dass Moskau angesichts von tausenden getöteten und verletzten Soldaten keine andere Wahl hat, als die Bemühungen um einen gleichzeitigen Vormarsch entlang mehrerer Achsen im Norden, Osten und Süden aufzugeben.
Am Donnerstag drängte Selenskyj die westlichen Verbündeten erneut zu einer härteren Gangart in wirtschaftlichen Fragen. In einer Rede vor dem niederländischen Parlament forderte er die Niederländer auf, russische Energieexporte zu boykottieren.