Sprach sich Politikberater Jacques Attali für Euthanasie aus?

Tausende Nutzerinnen und Nutzer haben seit Mitte April ein vermeintliches Zitat des französischen Autoren und Beraters des ehemaligen französischen Präsidenten François Mitterrand (PS), Jacques Attali, geteilt. Attali habe sich in einem Buch angeblich für eine Reduktion der Bevölkerung ausgesprochen, die er mit einer Euthanasie von Alten und Schwachen erreichen wolle. Attali selbst bezeichnet das angebliche Zitat als „gänzlich  erfunden“, in den genannten Büchern kommt es nicht vor.

Die Bevölkerung sei „wirtschaftlich zu teuer“, daher werde es in der Zukunft darum gehen, „einen Weg zu finden, die Bevölkerung zu reduzieren“, soll Jacques Attali angeblich geschrieben haben. Zuerst alte Menschen, dann die Schwachen, zuletzt die Dummen. So zumindest zitieren tausendfach geteilte Postings  den französischen Autor und Mitterand-Berater seit Mitte April (hierhierhier). „Euthanasie richtet sich an diese Gruppen; Euthanasie muss ein wesentliches Instrument unserer zukünftigen Gesellschaften sein, in allen Fällen“, schrieb Attali angeblich.

Weiter soll er ausgeführt haben: Da man Menschen nicht in Lager bringen oder hinrichten könne, müsse man die Menschen so loswerden, dass sie selbst glaubten, es sei zu ihrem eigenen Besten: „Wir werden etwas finden oder verursachen; eine Pandemie, die auf bestimmte Menschen abzielt, eine echte Wirtschaftskrise oder nicht, ein Virus, das die Alten oder die Älteren befallen wird, es spielt keine Rolle, die Schwachen und die Ängstlichen werden erliegen.“ So könne man die Alten und Schwachen loswerden, die Dummen schließlich: „Die Selektion der Idioten wird sich also von selbst erledigen: sie werden allein zur Schlachtbank gehen.“

Das Zitat Attalis belegte, dass alles ein „lange voraus entwickelter Plan“ sei, kommentierte ein User etwa. Eine andere Nutzerin schrieb: „Das habe ich schon lange geschrieben, daß sie die Bevölkerung reduzieren wollen.“

Auch auf Französisch und Serbisch haben Tausende das angebliche Zitat verbreitet, genauso wie auf TelegramYoutube sowie mehreren Blogs (hierhierhierhier).

Facebook-Screenshot: 15.04.2021

Attali ist ein in Frankreich bekannter Politikberater und Autor. In seiner Twitter-Beschreibung teilte er bereits mit: „Ich antworte nicht auf Falschzitate von mir.“ Das Auftauchen seines Zitats fällt mit einer Debatte in der französischen Nationalversammlung über einen Gesetzesentwurf zum Recht auf ein „frei gewähltes Lebensende“ im April zusammen. In der Vergangenheit hat AFP bereits Attali fälschlich zugeschrieben Zitate über das Coronavirus und über Pressekontrolle überprüft. Auch das aktuell geteilte Zitat gehört in diese Reihe an Falschbehauptungen.

Die am meisten geteilten Postings nennen zwei Jahreszahlen: 1981 und 2006.

Das Buch von 2006

Die aktuell geteilten Postings nennen als Quelle meist konkret das Buch: „Die Welt von morgen“ von Jacques Attali, 2008 auf Deutsch im Parthas Verlag erschienen, zwei Jahre zuvor auf Französisch beim Verlag Fayard. Darin zeichnet Attali teilweise finstere Zukunftsszenarien, wie eine Rezension des „Tagesspiegel“ resümiert.

AFP liegt eine vorläufige Druckversion des mittlerweile vergriffenen Buches vor. Die Wörter „die Dummen“, „die Nutzlosen“, „hinzurichten“ „Pandemie“, „Intelligenztests“ oder „Schlachtbank“ kommen darin nicht vor. Lediglich das Wort „Euthanasie“ erzielt einen Treffer, allerdings in einem gänzlich anderen Zusammenhang. Attali spricht darüber, wie christliche Bewegungen Abtreibung, Geburtenkontrolle und Euthanasie ablehnten.

AFP hat am 16. April das angebliche Zitat Gabriela Wachter gezeigt. Sie leitet den Parthas Verlag und sagte gegenüber AFP: „Das Zitat ist erfunden. Hätte Herr Attali so etwas gefordert, hätten wir das Buch nie veröffentlicht.“ Sie verwies lediglich darauf, dass der Autor in einem Kapitel namens „Vergreisung der Welt“ darüber spricht, wie Alterungsprozesse in hochentwickelten Ländern zu einem Rückgang der Bevölkerungszahlen führen würden. Von Euthanasie alter Menschen spricht er in dieser Passage aber nicht, wie der entsprechende Ausschnitt zeigt:

Ausschnitt aus „Die Welt von morgen“, zur Verfügung gestellt von Parthas Verlag

AFP hat außerdem am 16. April mit Caroline Gutberlet gesprochen. Sie hat das Buch vom Französischen ins Deutsche übersetzt und weist die Behauptungen ebenfalls zurück. „Ich kann garantieren, dass ein solches Zitat nicht in dem Buch steht.“

Das Buch von 1981

1981 erschien das Buch „L’avenir de la vie„, zu Deutsch „Die Zukunft des Lebens“, von Michel Salomon, erschienen im Verlag Seghers. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Gesprächen, an denen sich auch Attali beteiligte. Postings auf Französisch schreiben die angebliche Passage diesem Buch von 1981 zu, auch mehrere deutsche Postingtexte erwähnen es. AFP, sowie andere Faktencheck-Redaktionen (hierhier), haben die im Buch von 1981 angeblich enthaltene Passage bereits überprüft. Darin unterhält sich Jacques Attali mit Michel Salomon darüber, ob es möglich und wünschenswert sei, 120 Jahre alt zu werden.

Der Verlag Segher schickte AFP eine französische Kopie des Gesprächsausschnitts zu. Darin gibt es zwei Ähnlichkeiten mit dem geteilten Facebook-Post: „Aber sobald wir über 60/65 hinausgehen, lebt der Mensch länger, als er produziert, und das kommt die Gesellschaft dann teuer zu stehen“. Und weiter: „In der Tat ist es vom Standpunkt der Gesellschaft aus gesehen viel besser, wenn die menschliche Maschine abrupt aufhört, als wenn sie sich allmählich verschlechtert.“

Dann erklärt Attali seine Sichtweise darauf, wie die Gesellschaft seiner Meinung nach mit der Frage einer verlängerten Lebenserwartung umgeht. Er sagt: „Daher glaube ich, dass es in der Logik der Industriegesellschaft nicht mehr darum geht, die Lebenserwartung zu verlängern, sondern dafür zu sorgen, dass der Mensch innerhalb einer gegebenen Lebensspanne so gut wie möglich lebt, aber so, dass die Gesundheitskosten für die Gemeinschaft möglichst gering sind.“

Eine Euthanasie von Alten oder Schwachen fordert er nicht. Auf AFP-Anfrage erklärte Attali am 12. April: „Dieser Text ist gänzlich erfunden. Er ist noch weiter von der Realität entfernt als der vorherige diffamierende Text. Es hat nichts mit dem Originaltext zu tun. Das ist so, als würde man sagen, ich hätte ‚Mein Kampf‘ geschrieben.“

Im Buch kommt er zum Schluss: „In jedem Fall wird Euthanasie eines der wesentlichen Instrumente unserer künftigen Gesellschaften sein. In einer sozialistischen Logik stellt sich das Problem zunächst wie folgt dar: Die sozialistische Logik ist die von der Freiheit und die grundlegende Freiheit ist der Selbstmord; folglich ist das Recht auf direkten oder indirekten Selbstmord ein absoluter Wert in dieser Art von Gesellschaft.“ Dem stellt der die Logik eines kapitalistischen Systems hinzu: „In einer kapitalistischen Gesellschaft werden Tötungsmaschinen, Prothesen, entstehen und gängig werden, die es ermöglichen, das Leben zu eliminieren, wenn es zu unerträglich oder ökonomisch zu kostspielig ist. Deshalb glaube ich, dass die Euthanasie, ob sie nun ein Freiheitswert oder ein Warenwert ist, eine der Regeln der zukünftigen Gesellschaft sein wird.“

Attali kommentierte das gegenüber AFP: „Wie immer wird mir hier vorgeworfen, ich würde mir wünschen, was ich nur voraussehe und anprangere. Die neue Version ist nur eine wahnhafte Erweiterung des falschen Zitats, gegen das ich 1983 wegen Verleumdung geklagt hatte.“

In den 1980er-Jahren war Attali tatsächlich bereits gegen eine ähnliche Behauptung vorgegangen, wonach er einen „Genozid der Alten“ befürworte. Er hatte den Prozess gewonnen, wie eine französische AFP-Meldung und ein Artikel von „Le Monde“ zeigen.

Fazit: Nein Politikberater Jacques Attali hat weder in einem Buch von 1981 noch in seinem 2006 erschienen Buch „Die Welt von morgen“ eine Euthanasie an Alten befürwortet. In einigen Passagen sprach er zwar über mögliche Zukunftsszenarien, die Euthanasie beinhalten, unterstützte diese aber nicht. Das genannte Zitat kommt so außerdem in keinem der beiden Bücher vor.

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