Nach 108 Verhandlungstagen soll am Donnerstag vor dem Oberlandesgericht (OLG) im rheinland-pfälzischen Koblenz das Urteil im weltweit ersten Prozess um Staatsfolter in Syrien verkündet werden. In dem Verfahren muss sich Anwar R. verantworten, ein mutmaßlicher früherer Befehlshaber des Al-Khatib-Gefängnisses in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Bei ihm soll es sich um einen früheren Mitarbeiter des Geheimdiensts des syrischen Machthabers Baschar al-Assad handeln.
Unter seiner Befehlsgewalt sollen zwischen April 2011 und September 2012 mindestens 4000 Häftlinge in der berüchtigten Haftanstalt mit Schlägen, Tritten und Elektroschocks gefoltert worden sein. Viele starben dabei. Für syrische Flüchtlinge hat die fast zwei Jahre dauernde Verhandlung eine große Bedeutung. Und auch große Teile der arabischsprachigen Welt schauen erneut auf Koblenz.
Die Bundesanwaltschaft wirft R. vor, zwischen April 2011 und September 2012 in Syrien durch einen systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. In diesem Zusammenhang wurden ihm zu Beginn des Prozesses 58-facher Mord, Vergewaltigung und schwere sexuelle Nötigung vorgeworfen.
Die Zahl der Ermordeten setzte die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer Anfang Dezember mangels Beweisen jedoch herab auf mindestens 30. Teilweise sei es möglich, dass sich die Zeugenangaben ehemaliger Inhaftierter zeitlich überschnitten. Sie forderte wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord in mindestens 30 Fällen sowie Vergewaltigung lebenslange Haft. Zudem beantragte sie die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld.
Ihrer Ansicht nach hatte R. die Vernehmungsbeamten und Gefängniswärter zum Dienst eingeteilt und ihre Arbeitsabläufe bestimmt. Er habe über das Ausmaß der Folterungen Bescheid gewusst. Die Misshandlungen hätten dazu gedient, Geständnisse zu erzwingen und Informationen zu erlangen.
Die Anwälte der Nebenkläger stellten überwiegend keine eigenen Anträge. Zwei schlossen sich den Forderungen der Bundesanwaltschaft an, einer davon forderte ebenfalls lebenslange Haft und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. R.s Verteidiger skizzierten dagegen ein anderes Bild. Er sei für die Folterungen nicht verantwortlich gewesen, argumentierten sie und verlangten einen Freispruch.
In dem im April 2020 gestarteten Prozess war auch ein zweiter Mann angeklagt, der als Untergebener an den Folterungen beteiligt war. Ihn verurteilte das Gericht bereits im Februar 2021 in einem abgetrennten Verfahren wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu viereinhalb Jahren Haft. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Ins Rollen war der Fall gekommen, nachdem nach Deutschland geflüchtete Opfer ihre mutmaßlichen Peiniger wiedererkannt hatten. Sie berichteten im Prozess detailliert davon, wie sie im Gefängnis gefoltert worden waren.
Menschenrechtsaktivisten und syrische Geflüchtete wie Wafa Mustafa sehen den Prozess als „ersten wichtigen Schritt“ im Streben der Syrer nach Gerechtigkeit, wie die 31-Jährige der Nachrichtenagentur AFP sagte. Sie setzt sich dafür ein, das Schicksal von in Gefängnissen Verschwundener aufzuklären. Mustafa ist selbst betroffen – ihr Vater verschwand 2013 nach seiner Festnahme.
Die Menschenrechtsorganisation European Centre for Constitutional and Human Rights (ECCHR) warf dem OLG immer wieder Ignoranz gegenüber der arabischsprachigen Welt vor. Erst rund vier Monate nach Verhandlungsbeginn wurde arabischsprachigen Prozessbeobachtern eine Simultanübersetzung über Kopfhörer angeboten – nach einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht.
Dass der Prozess in Deutschland stattfindet, liegt am sogenannten Weltrechtsprinzip im Völkerstrafrecht. Demnach dürfen auch Taten verhandelt werden, die keinen unmittelbaren Bezug zu Deutschland haben. Die beiden Angeklagten wurden im rheinland-pfälzischen Zweibrücken und in Berlin festgenommen.
Während der Prozess in Koblenz vor dem Ende steht, beginnt am 19. Januar vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main eine weitere Verhandlung zu staatliche Folter und Mord in Syrien. Angeklagt ist ein syrischer Arzt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er soll Gefangene gefoltert und einen von ihnen vorsätzlich getötet haben. Die Aufarbeitung syrischer Verbrechen vor deutschen Gerichten geht damit weiter.