Rund dreieinhalb Jahre nach dem ersten Drohschreiben mit der Unterschrift „NSU 2.0“ beginnt am Mittwoch vor dem Landgericht Frankfurt am Main der Prozess gegen einen 53-Jährigen. Der Mann soll laut Anklage insgesamt 116 Drohschreiben mit volksverhetzenden, beleidigenden und drohenden Inhalten an Politiker und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verschickt haben. Lange zeit stand in dem Fall die hessische Polizei selbst unter Verdacht.
Die mit dem Synonym „NSU 2.0“ unterschriebenen Drohbriefe soll der Angeklagte zwischen Anfang August 2018 und Ende März 2021 per Email, SMS oder Fax unter anderem an Bundestagsabgeordnete, Parlamentarier des hessischen Landtags, eine Frankfurter Anwältin sowie Künstler und Menschenrechtsaktivisten geschickt haben. Das Kürzel „NSU 2.0“ nimmt Bezug auf die rechtsextremistische Zelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU).
Konkret wirft die Anklage dem 53-Jährigen neben 67 Fällen von Beleidigung versuchte Nötigung, Bedrohung, Volksverhetzung, das Verbreiten von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten und öffentliche Aufforderung zu Straftaten vor. Zudem werden ihm tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte, der Besitz kinder- und jugendpornografischer Schriften sowie ein Verstoß gegen das Waffengesetz zur Last gelegt.
Die Drohbriefe, die häufig in Form eines behördlichen Schreibens oder eines Gerichtsurteils verfasst waren, habe der erwerbslose Mann regelmäßig mit „Heil Hitler“ unterzeichnet, sich selbst habe er „SS-Obersturmbannführer“ genannt. Er habe den ausschließlich weiblichen Adressatinnen unter anderem mit Worten wie „verpiss dich lieber, solange du hier noch lebend rauskommst“ gedroht oder damit, dass Familienangehörige „mit barbarischer sadistischer Härte abgeschlachtet“ würden. Um seine Drohwirkung zu verstärken, soll der Beschuldigte zum Teil nicht frei zugängliche Daten der Betroffenen genannt haben.
Weil diese Daten von Computern der hessischen Polizei in Wiesbaden und Frankfurt abgerufen worden waren, richtete sich der Verdacht lange Zeit gegen die Polizei. Ein ehemaliger Polizist aus Bayern und seine Ehefrau standen zunächst im Fokus der Ermittlungen. Der Verdacht gegen sie konnte allerdings nicht erhärtet werden. Die Daten soll sich der nun angeklagte Mann telefonisch bei der Polizei erschlichen haben.
Der Fall hatte auch Folgen für die hessische Polizei. Landespolizeipräsident Udo Münch trat zurück, und Innenminister Peter Beuth (CDU) berief einen Sonderermittler. Zudem kündigte Beuth eine Reform des polizeilichen Abfragesystems an. Angehende Polizisten werden darüber hinaus genauer vom Verfassungsschutz überprüft.
Der Angeklagte ist den Ermittlern zufolge vorbestraft und wurde zuletzt 2014 verurteilt. Bereits im Jahr 1992 hatte er sich als Kriminalbeamter ausgegeben und wurde in diesem Zusammenhang wegen Amtsanmaßung verurteilt. Auf seine Spur kamen die Ermittler nach eigenen Angaben durch akribische Ermittlungsarbeit vor allem in Internetblogs und -foren. auf der Plattform „PI-News“ stieß die Polizei auf einen Nutzer, dessen Beiträge in Form und Duktus Ähnlichkeiten mit den „NSU 2.0“-Drohschreiben aufwiesen.
Über Internetrecherchen wurde dann auf einer Schachplattform ein namensgleiches Profil gefunden – weitere wurden über die genutzte IP-Adresse entdeckt. Aus den Drohschreiben und den Onlinekommentaren ergaben sich zudem zahlreiche Bezüge zu Berlin und dort zum direkten Wohnumfeld des Beschuldigten.
Anfragen beim Betreiber der Schachplattform zu den verdächtigen Profilen sowie Bestandsdatenabfragen bei Telefonanbietern führten schließlich im April 2020 zur Identifizierung des Verdächtigen. Bis Ende April sind zunächst 14 Verhandlungstermine angesetzt.