Hunderte Facebook-User haben seit Ende Februar einen Beitrag geteilt, in dem behauptet wird, die Ukraine würde formal nicht als souveräner Staat existieren. Angeblich, so der Post, habe die Ukraine versäumt, ihre Grenzen bei der UNO „registrieren“ zu lassen und gehöre daher zu Russland. Die Behauptung ist falsch. Staaten müssen ihre Grenzen nicht bei der UNO registrieren lassen. Sowohl die UNO als auch Russland haben die Unabhängigkeit der Ukraine 1991 anerkannt.
Hunderte Facebook-User haben seit Ende Februar einen Beitrag geteilt (hier, hier), der behauptet, die Ukraine würde formal nicht als souveräner Staat existieren. Auch auf Telegram und Twitter sahen Zehntausende die Behauptungen. Ähnliche Postings verbreiteten sich zudem auf Englisch, Serbisch, Niederländisch, Japanisch, Griechisch und Bulgarisch. AFP widerlegte die Behauptungen zuerst hier.
Die Behauptungen
In dem Posting werden mehrere Behauptungen in Bezug auf die Souveränität der Ukraine aufgestellt. Angeblich habe der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-Moon, 2014 gesagt, die Ukraine habe „seit 1991 keinen Antrag auf Registrierung der Grenzen gestellt“. Laut „Budapester Memorandum und anderen Abkommen“ gebe es „keine offiziell anerkannten Grenzen“ der Ukraine. Daher existiere der ukrainische Staat nicht. Zudem habe Russland der derzeitigen Grenzziehung nie zugestimmt. Das Territorium der Ukraine sei lediglich „ein Verwaltungsbezirk der UdSSR“ über das allein Russland verfügen dürfe.
Zum Ukraine-Krieg kursieren derzeit zahlreiche Beiträge in sozialen Netzwerken, die falsche oder aus dem Kontext gerissene Informationen verbreiten. AFP widerlegte etwa bereits ein Video von angeblichen russischen Militärflugzeugen über der Ukraine, das Bild eines vermeintlichen Luftangriffs auf Kiew oder diese veralteten Aufnahmen russischer Fallschirmspringer. AFP sammelt Faktenchecks im Kontext des Ukraine-Konflikts hier.
Am 21. Februar verkündete der russische Präsident Wladimir Putin die Anerkennung der selbst ernannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk in der Ostukraine. Am 22. Februar stellte Putin klar, dass sich die Anerkennung der Unabhängigkeit auf die gesamten Bezirke Luhansk und Donezk beziehe – und somit auch auf von Kiew kontrolliertes ukrainisches Staatsgebiet. In seiner im russischen Fernsehen übertragenen Rede am selben Tag sprach Putin der Ukraine die Staatlichkeit ab und behauptete, der ukrainische Staat verfüge über keine historische Tradition. Die aktuell verbreiteten Postings in sozialen Netzwerken stützen und verbreiten diese Darstellung.
Die Behauptungen sind falsch. Die Souveränität der Ukraine und ihre Grenzen sind international anerkannt – auch von Russland. Das belegen verschiedene internationale Abkommen, die online zugänglich sind. Experten für internationale Beziehungen und Völkerrecht bestätigten zudem gegenüber AFP, dass Staaten ihre Grenzen nicht registrieren lassen müssen.
AFP hat den Aufenthaltsort des damaligen UN-Generalsekretärs Ban Ki-moons für den 7. April 2014 – den Tag, von dem die angeblichen Äußerungen in Bezug auf die Ukraine stammen sollen – ermittelt. Demnach hielt sich Ban an diesem Tag in Ruanda auf, um an einer Gedenkfeier anlässlich des 20. Jahrestages des Völkermordes in dem ostafrikanischen Land teilzunehmen. Verschiedene internationale Medien berichteten damals über den Besuch. Die UNO veröffentlichte Bans Rede auf ihrer Website. Die Ukraine erwähnt er darin nicht.
Im April 2014 eskalierten die Spannungen in der ukrainischen Donbass-Region. Einen Monat später annektierte Russland die Krim. Die Situation in der Ostukraine beschäftigte auch die Vereinten Nationen. Die UNO veröffentlichte auf ihrer Website das Protokoll eines Pressetermins am 7. April 2014 in New York. Darin erklärt der stellvertretende Sprecher des UN-Generalsekretärs, Farhan Haq, zur Lage in der Ukraine: „Der Generalsekretär ist tief besorgt über die über das Wochenende gewachsene Instabilität in der Ostukraine. Er ruft alle verantwortlichen und einflussreichen Akteure auf, Spannungen abzubauen und bestärkt die Beteiligten, sich friedlich zu verhalten, um die Situation zu entspannen.“ Bans Erklärung wiederholte der Sprecher bei einem ähnlichen Termin am nächsten Tag.
UNO forderte, die Grenzen der Ukraine zu respektieren
Es gibt keine Hinweise dafür, dass sich Ban Ki-moon am 7. April 2014 wie in den aktuell geteilten Postings behauptet zur Situation in der Ukraine geäußert hat. Hingegen sind Äußerungen anderer hochrangiger UN-Repräsentanten zu dem Konflikt von 2014 dokumentiert. Keiner stellte die Grenzen der Ukraine infrage. Vielmehr riefen sie dazu auf, die Souveränität der Ukraine angesichts der Bedrohung durch Russland zu schützen.
Am 1. März 2014 sagte der damalige Vize-Generalsekretär der Vereinten Nationen, Jan Eliasson, der Generalsekretär bekräftige seinen Aufruf, „die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine vollumfänglich zu respektieren und zu schützen.“
Am 19. März 2014 sagte Eliasson: „Der Generalsekretär setzt seine Bemühungen fort, die Akteure zu einer Deeskalation der Situation zu bewegen, fordert sie unermüdlich zum Dialog sowie zur Einhaltung der Charta der Vereinten Nationen sowie zum Schutz der ukrainischen Souveränität und territorialen Integrität auf.“
Am 13. April 2014 diskutierte der UN-Sicherheitsrat die Entwicklungen in der Ukraine. Der Vizevorsitzende der politischen Abteilung der UNO, Oscar Fernandez-Taranco, sagte damals: „Der Generalsekretär und die UNO fühlen sich dem Weg einer friedlichen Lösung dieser sich verschärfenden Krise verpflichtet.“
Am 2. Mai 2014 rief UN-Generalsekretär Ban Ki-moon die Konfliktparteien dazu auf, „die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine zu respektieren.“ Einen Tag später, am 3. Mai 2014, wiederholte Ban diese Forderung in einer Pressemitteilung.
Am 8. Mai 2015 sagte Ban anlässlich des 70. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs in Kiew: „Die Vereinten Nationen und die Ukraine sind starke Partner: Die Ukraine ist ein Gründungsmitglied der Vereinten Nationen und heute im 24. Jahr ihrer Unabhängigkeit.“
Die Ukraine und die Vereinten Nationen
Die historisch starken Verbindungen zwischen der UNO und der Ukraine widerlegen die Behauptungen aus den aktuell geteilten Postings zusätzlich. Der Vorgängerstaat der heutigen Ukraine, die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik, war 1945 eines der Gründungsmitglieder der UNO. Die moderne Ukraine wurde zudem als temporäres Mitglied in den UN-Sicherheitsrat gewählt, zuletzt von 2016 bis 2017. Der frühere ukrainische Außenminister Hennadij Udowenko war zwischen 1997 und 1998 Präsident der UN-Vollversammlung.
Zur Frage nach der Anerkennung von Staaten oder Grenzziehungen heißt es auf der Website der UNO: „Die Vereinten Nationen haben keine Autorität, einen Staat oder eine Regierung anzuerkennen. Als Organisation unabhängiger Staaten kann sie einen neuen Staat als Mitglied aufnehmen oder die Legitimation einer neuen Regierung akzeptieren.“
Das bestätigte Mira Kaneva, Juniorprofessorin am Institut für internationales Recht und internationale Beziehungen an der Universität Sofia in Bulgarien, am 23. Februar 2022 per E-Mail gegenüber AFP. „So etwas wie eine Registrierung von Grenzen gibt es nicht“, schrieb sie. „Die Anerkennung von Grenzen geschieht über die Unterzeichnung eines entsprechenden Vertrages, der den Willen der beteiligten Parteien widerspiegelt. Die Anerkennung wird wirksam durch die Ratifizierung dieser Abkommen, nicht durch die Registrierung eines Vertrags bei den Vereinten Nationen“, erklärte Kaneva.
„Grenzen werden nicht bei der UN registriert“, erklärte auch Stefan Oeter, Professor für Völkerrecht an der Universität Hamburg, am 4. März 2022 in einer E-Mail an AFP. „Sie sind in der Regel im Verlauf der Geschichte etabliert worden und werden dann an strittigen Stellen durch bilaterale Vereinbarungen konkret bestimmt.“ Bei den Grenzen der Ukraine zu Russland und Belarus handele es sich um frühere Verwaltungsgrenzen zwischen den einzelnen Gliedstaaten der Sowjetunion (UdSSR).
„Die Vereinbarung der Nachfolgestaaten bei der Auflösung der UdSSR war die Souveränität in den Grenzen der alten Sowjetrepubliken – und das wurde in späteren Abkommen vielfach bestätigt, auch von Russland“, erklärte Oeten. „Die Ukraine ist zudem Gründungsmitglied der UN und seit 1991 anerkanntermaßen ein souveräner Staat – daran hat bis zu diesem Winter selbst Russland nie gezweifelt und erst recht kein UN-Generalsekretär.“
Russland hat die Unabhängigkeit der Ukraine mehrfach anerkannt
In den aktuell geteilten Postings wird behauptet, die Ukraine habe „ihre Grenzen seit dem 25.12.1991 nicht mehr registriert.“ An diesem Tag löste sich die UdSSR offiziell auf. Russland hatte die Unabhängigkeit der Ukraine zu diesem Zeitpunkt bereits anerkannt. Am 1. Dezember 1991 hatten die Ukrainerinnen und Ukrainer in einem Referendum mit überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit von der zerfallenden UdSSR gestimmt. Der damalige russische Präsident Boris Jelzin erkannte die Unabhängigkeit des Nachbarlandes am Tag darauf an, wie AFP berichtete:
In den Facebook-Posts wird weiter behauptet, das Gebiet der Ukraine sei laut „GUS-Vertrag […] ein Verwaltungsbezirk der UdSSR.“ Der Begriff GUS-Vertrag bezieht sich in diesem Kontext mutmaßlich auf die Belowescher Vereinbarungen vom 8. Dezember 1991 zur Gründung der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS). Russland, die Ukraine und Weißrussland schlossen sich nach dem Zerfall der UdSSR zur GUS zusammen, nach der endgültigen Auflösung der Sowjetunion traten acht weitere frühere Sowjetrepubliken dem Staatenbund bei.
Auf der Website der GUS findet sich neben einer Darstellung der historischen Entwicklung ein Verzeichnis relevanter Dokumente der GUS, darunter auch das Abkommen zur Gründung der Gemeinschaft unabhängiger Staaten. Artikel 5 des Abkommens besagt: „Die Hohen Vertragsparteien respektieren und erkennen die territoriale Integrität und die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen innerhalb der Gemeinschaft an.“
„Russlands Präsident Boris Jelzin erkannte die Unabhängigkeit der Ukraine 1991 an“, erklärte auch David Marples, Professor für russische und europäische Geschichte an der Universität Alberta im kanadischen Edmonton, per E-Mail am 24. Februar 2022 gegenüber AFP. „Die Grenzen wurden 1997 in einem Freundschaftsvertrag zwischen Russland und der Ukraine erneut durch Russland anerkannt.“ Dieser Freundschaftsvertrag vom 31. Mai 1997 wurde von Jelzin und dem damaligen ukrainischen Präsidenten Leonid Kuchma unterzeichnet. Artikel 2 besagt: „Die Hohen Vertragsparteien erkennen ihre territoriale Integrität gegenseitig an und bekennen sich zur Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen zwischen ihnen.“
Am 28. Januar 2003 unterzeichneten die beiden Nachbarländer zusätzlich einen Grenzvertrag. Die UNO registrierte das bilaterale Abkommen 2016. Das Dokument beschreibt die exakte Grenzziehung zwischen Russland und der Ukraine in detaillierten beigefügten Karten.
Budapester Memorandum garantiert die Sicherheit der Ukraine
In den aktuell geteilten Postings wird zudem das Budapester Memorandum zitiert: „Gemäß dem Budapester Memorandum und anderen Abkommen gibt es keine Grenzen der Ukraine“, heißt es dort. Das Abkommen besagt tatsächlich das Gegenteil. Das Budapester Memorandum vom 5. Dezember 1994 beinhaltet Sicherheitsgarantien in Verbindung mit dem Zugeständnis der Ukraine, ihr atomares Waffenarsenal aufzugeben. Die Vertragsstaaten, darunter Russland, vereinbaren in Artikel 1, „die Unabhängigkeit und Souveränität sowie die bestehenden Grenzen der Ukraine zu respektieren.“ In Artikel 2 versichern die Parteien, „auf Bedrohungen oder den Einsatz von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder die politische Unabhängigkeit der Ukraine zu verzichten.“
Fazit
Die Behauptungen in den Postings sind falsch. Die Ukraine ist ein souveräner und international anerkannter Staat sowie Gründungsmitglied der UNO. Die Vereinten Nationen müssen und können die Grenzen von Staaten nicht registrieren. Die Nachbarländer der Ukraine einschließlich Russland haben die territoriale Integrität und Unabhängigkeit des Landes in mehreren internationalen Abkommen anerkannt. Das zeigen die Vertragstexte und bestätigten mehrere Experten für internationales Recht unabhängig voneinander.