Taktische Nuklearwaffen als Drohszenario im Ukraine-Krieg

Kreml, Russland - Bild: eric_urquhart via Twenty20
Kreml, Russland - Bild: eric_urquhart via Twenty20

Geht Russland so weit und setzt Atomwaffen ein? Diese Frage besorgt die Welt seit Beginn der Invasion in der Ukraine. Mit einer taktischen Nuklearwaffe könnte Moskau den Krieg für sich entscheiden – und würde ein seit 1945 bestehendes Tabu brechen. Bereits am vierten Tag des Angriffs hatte Kreml-Chef Wladimir Putin mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht, als er „die Abschreckungskräfte der russischen Armee in besondere Kampfbereitschaft“ versetze. Diese sogenannten Abschreckungskräfte umfassen auch Atomwaffen. Seither ist der Einsatz taktischer Atomsprengköpfe in der Ukraine eines der möglichen Szenarien für die weitere Entwicklung dieses Krieges. Eine taktische Nuklearwaffe hat eine kleinere Sprengladung als eine strategische Atomwaffe und ist theoretisch auch für das Schlachtfeld bestimmt.

Mit konventionellen Waffen hat es die russische Armee in einem Monat nicht geschafft, den Widerstand der ukrainischen Streitkräfte und der Bevölkerung zu brechen. „Die Russen brauchen verzweifelt militärische Siege, um sie in einen politischen Hebel umzuwandeln“, sagt Mathieu Boulègue von der britischen Denkfabrik Chatham House. „Chemische Waffen würden das Gesicht des Krieges nicht ändern. Eine taktische Nuklearwaffe, die eine ukrainische Stadt auslöscht, schon. Das ist unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen.“

Welche Grundsätze in Russland für den Einsatz von Atomwaffen gelten, ist unklar. Einige Experten und Militärs, vor allem in Washington, behaupten, dass Moskau die sowjetische Doktrin, die ultimative Waffe nicht als erster einzusetzen, aufgegeben habe. „Eskalation zur Deeskalation“ sei nun die Maßgabe. Atomwaffen in begrenztem Umfang einzusetzen, um die Nato zum Rückzug zu zwingen, sei nun eine Option.

Die jüngsten russischen Erklärungen lassen jedoch an dieser Interpretation zweifeln. Moskau werde Atomwaffen in der Ukraine nur im Falle einer „existenziellen Bedrohung“ Russlands einsetzen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Dienstag im US-Fernsehsender CNN International. Es gebe keinen Anlass, „unsere strategische Haltung der Abschreckung zu ändern“, reagierte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby.

Für einen Atomkrieg wäre Russland militärisch bestens gerüstet: Das Arsenal umfasst laut der Fachzeitschrift „Bulletin of the Atomic Scientists“ 1588 stationierte Atomsprengköpfe, davon 812 auf landgestützten Raketen, 576 auf U-Booten und 200 auf Bombern. Weitere knapp tausend Sprengköpfe seien gelagert.

Der Kreml könnte eine taktische Nuklearwaffe einsetzen, „um seinen Gegner zu demoralisieren, um den Feind daran zu hindern, weiter zu kämpfen“, sagt Pawel Lusin vom Moskauer Institut Riddle. Dabei gehe es zunächst um eine Demonstration der Stärke. „Aber wenn der Gegner danach immer noch kämpfen will, kann sie auf direktere Weise eingesetzt werden.“

Andere Experten sind überzeugt, dass Putin keinen Atomkrieg riskieren wird, auch nicht mit taktischen Waffen, die eine Region für Jahrzehnte unbewohnbar machen würden. „Die politischen Kosten wären ungeheuerlich. Er würde die wenige Unterstützung verlieren, die er noch hat. Die Inder würden sich abwenden, die Chinesen auch“, sagt William Alberque vom International Institute for Strategic Studies (IISS). „Ich glaube nicht, dass Putin das tun wird.“

Doch seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar gelten viele Gewissheiten nicht mehr. „Der anfängliche Rubikon wurde überschritten, es gibt eigentlich keine Grenzen mehr“, sagt ein westlicher Diplomat. „Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass Putin nicht die Absicht hat, die Sache zu Ende zu bringen, und dass er nicht alle Mittel einsetzen wird, um dies zu erreichen – möglicherweise durch den Einsatz verbotener Waffen“, sagt er und denkt dabei zunächst an chemische Waffen.

Noch hat der Diplomat die Hoffnung, dass „das Tabu vom 9. August 1945“ bestehen bleibt – jenem Tag, als eine US-Atombombe die japanische Stadt Nagasaki vernichtete.

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