Nachdem alle Zivilisten aus dem Stahlwerk des Asow-Stahlkonzerns in Mariupol herausgeholt worden sind, befürchtet die Ukraine gnadenlose Kämpfe zwischen ihren dort verschanzten Soldaten und den russischen Truppen. Der ukrainische Generalstab teilte am Sonntagmorgen mit, die Einheiten im Bereich des Stahlwerks seien weiterhin blockiert. Es gebe „russische Angriffe“ mit „Unterstützung von Artillerie und Panzerangriffen“.
„Der Feind versucht, den Verteidigern von Asow-Stahl den Rest zu geben, sie versuchen das vor dem 9. Mai zu schaffen als Geschenk an (Russlands Präsidenten) Wladimir Putin“, sagte Oleksij Arestowytsch, Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, am Freitag. Russland feiert am 9. Mai den Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland mit einer traditionellen Militärparade.
In dem Industriekomplex haben sich hunderte Soldaten verschanzt, es ist die letzte Bastion des ukrainischen Militärs in der zerstörten Hafenstadt Mariupol. Sollte das Stahlwerk schließlich fallen, hätten die Russen die strategisch wichtige Hafenstadt gänzlich eingenommen, was für Moskau ein wichtiger militärischer Erfolg wäre.
Erklärtes Ziel Moskaus ist die Herstellung einer Landverbindung zwischen der 2014 annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim und den von pro-russischen Separatisten kontrollierten ostukrainischen Regionen Luhansk und Donezk. Seit dem 24. Februar haben die russischen Truppen mit Cherson lediglich eine bedeutende ukrainische Stadt unter ihre Kontrolle gebracht.
Selenskyj sprach am Samstagabend von 300 Menschen, die aus dem Stahlwerk herausgeholt worden seien. Es sei eine „zweite Phase“ von Evakuierungen in Vorbereitung für „die Verletzten und medizinisches Personal“. Die Regierung arbeite „natürlich auch daran, unsere Soldaten herauszuholen. Alle diese Helden, die Mariupol verteidigen“, fügte Selenskyj hinzu, ohne Zahlen zu nennen. „Es ist extrem schwierig. Aber es ist wichtig.“
„Viele Soldaten befinden sich in einem schlimmen Zustand. Sie sind verwundet und haben keine Medikamente“, sagte die Militärkrankenschwester Jewgenja Tytarenko, deren Mann, Krankenpfleger und Mitglied des Asow-Regiments, sich noch in dem Stahlwerk befindet. „Auch an Nahrung und Wasser mangelt es.“
„Ich werde bis zum Ende kämpfen“, erklärte Jewgenjas Mann Mychailo in einer Textnachricht, die sie AFP-Reportern zeigte. Die beiden hatten zwei Tage vor der russischen Invasion geheiratet.
Die stellvertretende ukrainische Regierungschefin Iryna Wereschtschuk hatte am Samstagabend bekanntgegeben, dass alle verbliebenen Zivilisten – „Frauen, Kinder und ältere Menschen“ – aus dem Stahlwerk herausgeholt worden seien. Bewohner der seit Wochen belagerten Hafenstadt im Südosten der Ukraine hatten in den Tunneln und Bunkern des Stahlwerks Zuflucht gesucht.
In den vergangenen Tagen war es nach ukrainischen Angaben im Zuge von UN-geführten Einsätzen gelungen, über 500 Zivilisten aus der Stadt und aus dem Stahlwerk zu evakuieren. Einige von ihnen schilderten russische Kontrollen mit Leibesvisitationen, bei denen Fingerabdrücke genommen und ihre Handys überprüft worden seien.
„Sie fragten uns, ob wir nach Russland gehen oder in der selbsternannten Volksrepublik Donezk bleiben wollten“, sagte Natalja, die ihren vollen Namen nicht veröffentlicht sehen wollte. Die Russen hätten ihnen auch angeboten „zu bleiben und die Stadt Mariupol wieder aufzubauen“, sagte sie weiter. „Aber wie kann ich sie wieder aufbauen? Wie kann ich dorthin zurückkehren, wenn es die Stadt Mariupol nicht mehr gibt?“