Knapp sieben Wochen nach Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine steht die wichtige Hafenstadt Mariupol offenbar vor dem Fall: Die verbliebenen ukrainischen Truppen in der Stadt erklärten am Montag, sie bereiteten sich auf die „letzte Schlacht“ vor, pro-russische Separatisten aus der Region Donezk meldeten die Einnahme des Hafens von Mariupol. Als erster EU-Regierungschef seit Kriegsbeginn reiste Österreichs Kanzler Karl Nehammer zu einem Gespräch mit Kreml-Chef Wladimir Putin nach Moskau.
„Heute wird wahrscheinlich die letzte Schlacht sein, da die Munition zur Neige geht“, erklärte die 36. Marinebrigade der ukrainischen Streitkräfte. Die russische Armee habe die ukrainischen Soldaten „umzingelt“, alle Infanteristen seien bereits getötet worden.
Der Donezker Separatistenführer Denis Puschilin sagte, der Hafen von Mariupol befinde sich bereits unter der Kontrolle der pro-russischen Kämpfer. Der „Einsatz“ in der Ostukraine werde nun „intensiviert“, kündigte Puschilin an.
Nach dem Rückzug seiner Truppen aus der Region Kiew hatte Russland angekündigt, den militärischen Fokus verstärkt auf den Donbass zu richten. Ziel Moskaus ist laut Experten die Errichtung einer direkten Landverbindung zwischen der 2014 annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim und den von pro-russischen Separatisten kontrollierten Gebieten in den Regionen Luhansk und Donezk. Das am Asowschen Meer gelegene Mariupol gilt dabei als strategisch entscheidend.
Experten gehen davon aus, dass Putin am 9. Mai, dem Tag der Befreiung von Nazi-Deutschland, einen Sieg im Donbass verkünden will. Am 9. Mai findet jedes Jahr eine riesige Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau statt.
Mariupol wird seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar von der russischen Armee belagert. Inzwischen ist die einst 400.000 Einwohner zählende Stadt weitgehend zerstört, die humanitäre Lage katastrophal. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach in einer Videoansprache vor dem südkoreanischen Parlament von „mindestens zehntausenden“ Toten durch die russische Belagerung Mariupols.
Mit Blick auf die erwarteten Kämpfe im übrigen Donbass zeigte sich Selenskyj kämpferisch. „Sie können noch mehr Raketen gegen uns einsetzen“, sagte Selenskyj: „Wir werden antworten.“
Ein Vertreter des US-Verteidigungsministeriums sagte am Montag, die russischen Streitkräfte würden derzeit vor allem rund um die strategisch wichtige Stadt Isjum im Donbass verstärkt. Mit ihrer Offensive begonnen hätten die Truppen aber noch nicht.
Die Ukraine wirft der russischen Armee vor, im Osten des Landes gezielt die Bahn-Infrastruktur anzugreifen, über die derzeit die Ausreise von Zivilisten organisiert wird. Dem Chef der ukrainischen Bahngesellschaft Alexander Kamyschin, zufolge wurde am Montag erneut ein Bahnhof in der Ostukraine angegriffen. Bei einem Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk waren am Freitag 57 Menschen getötet worden.
Während sich Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am Rande eines EU-Außenministertreffens in Luxemburg für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine aussprach, warnte Österreichs Kanzler Nehammer den russischen Präsidenten vor einer Verschärfung der EU-Sanktionen. In einem „harten und offenen“ Gespräch habe er Putin „in aller Deutlichkeit gesagt, dass die Sanktionen gegen Russland aufrecht bleiben und weiter verschärft werden, solange Menschen in der Ukraine sterben“, erklärte Nehammer nach seinem Treffen mit Putin in dessen Residenz nahe Moskau.
Nehammer sprach nach eigenen Angaben bei Putin auch „die schweren Kriegsverbrechen in Butscha und anderen Orten“ an und forderte, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Was den weiteren Kriegsverlauf angehe, habe er bei seinem Gespräch mit Putin „keinen optimistischen Eindruck“ gewonnen.
Nach ukrainischen Angaben wurden seit dem Abzug der russischen Truppen aus dem Raum Kiew mehr als 1200 Leichen gefunden. Nach Angaben aus Paris erreichten am Montag französische Forensiker und Polizisten zur Unterstützung der ukrainischen Ermittlungen zu den mutmaßlichen Kriegsverbrechen den Großraum Kiew. Deutschland und die Niederlande kündigten eine Aufstockung ihrer Gelder für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) um jeweils eine Million Euro an, um die Untersuchungen über Kriegsverbrechen in der Ukraine voranzutreiben.