Der Psychologe Stephan Grünewald erklärt die hohen Umfragewerte der AfD mit einer „resignativ-passiven Haltung in Bezug auf die Gesellschaft“, die aber mit einer hohen Zuversicht vieler Menschen für ihr privates Leben verknüpft ist. Das sei der Nährboden für „diffuse Erlösungshoffnungen“, die die AfD politisch nutze, sagte der Wissenschaftler vom Markt- und Medienforschungsinstitut Rheingold dem „Tagesspiegel“.
„Manche setzen auf Fortschrittstechnologien, die alle Probleme lösen sollen – oder auf die nächste Generation. Andere wiederum brauchen Sündenböcke.“ Dieses Spiel betreibe die AfD: „Sie schreibt die ganze bedrohliche und komplexe Wirklichkeit den Regierenden zu. Wenn wir die vom Hof jagen, kehrt die alte Seligkeit zurück.“
Am meisten Angst hätten die Menschen „vor dem Verlust ihrer Autonomie“. Die Vorstellung, durch Technik „unser Leben auf Knopfdruck bewältigen zu können“, sei mit der Erfahrung aus der Corona-Pandemie eingebrochen, „dass wir noch immer hilflos und ohnmächtig sind“, sagte Grünewald: „Das war eine fundamentale Kränkung, die die Menschen nicht noch einmal durchlaufen wollen.“ Laut einer Zuversichtsstudie des Rheingold-Instituts blicken 87 Prozent der Deutschen zuversichtlich in ihre private Zukunft – aber nur 23 Prozent sind optimistisch im Hinblick auf Gesellschaft und Politik.
Diese Tendenz aus der Corona-Pandemie nehme noch weiter zu, sagte Grünewald dem „Tagesspiegel“: Das hohe Maß an privater Zuversicht müsse nun „ins Politische transformiert“ werden. Politiker müssten „gemeinsame Herausforderungen aufzeigen“, an denen Menschen „im Rahmen ihrer Möglichkeiten tätig werden können“, um „ein Hauptziel“ gemeinsam anzupacken. Die Energiekrise im vergangenen Winter sei dafür ein gutes, greifbares Beispiel gewesen: „Jeder war in der Lage, mitzuwirken und am Thermostat oder an der Armatur zu drehen. Man sollte heute nicht wie Angela Merkel alternativlos alles wegmoderieren und den Menschen die Krisen vom Leib halten“, fasst Grünewald seine Studien zusammen: „Für eine lebendige Demokratie ist es problematisch, wenn viele Menschen nicht mehr bereit sind, sich mit der Wirklichkeit aktiv auseinanderzusetzen.“
„Zwischen der eigenen Welt, wo man Überschaubarkeit, Geborgenheit und Selbstwirksamkeit erfährt, und der Welt da draußen, die als bedrohlich gilt, wird ein Verdrängungsschirm gespannt.“ Die Menschen betrieben Sport und Wellness und verschönerten ihr Zuhause, außerdem „sammeln sie sich mit Gleichgesinnten, bilden soziale Bollwerke, die allerdings immer hermetischer werden“ und entwickelten dort „eine Wagenburgmentalität“: Wer eine andere Meinung vertrete oder zu anstrengend sei, werde „aussortiert“.
Als persönlich relevant würden steigende Mieten, Energiekosten, Inflation und die gesellschaftliche Polarisierung wahrgenommen, „aber die oft ursächlichen globalen Krisen wie der Krieg, Migration und Klimawandel“ würden „weitestgehend ausgeblendet“.