Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial International muss ihre Arbeit einstellen. Das Oberste Gericht Russlands verfügte am Dienstag die Auflösung der wichtigsten Menschenrechtsorganisation des Landes, die sich seit mehr als 30 Jahren für die Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen in der Sowjetunion und für die Wahrung der Menschenrechte im heutigen Russland einsetzt. Stiftungen und Forschungseinrichtungen in Deutschland prangerten das Verbot als politisch motiviert an.
Die zuständige Richterin Alla Nasarowa begründete das Verbot von Memorial mit angeblichen Verstößen der Organisation gegen das sogenannte Ausländische-Agenten-Gesetz. Anders als das Gesetz es vorsehe, habe Memorial einige seiner Publikationen nicht mit einer speziellen Kennzeichnung versehen.
Die Zwangsauflösung von Memorial International markiert eine Zäsur in der Geschichte Russlands seit dem Ende des Kalten Krieges. Zwar gehen die russischen Behörden mit Hilfe des Ausländische-Agenten-Gesetzes schon seit Jahren rigoros gegen oppositionelle und zivilgesellschaftliche Gruppen vor. Die noch zu Sowjetzeiten Ende der 80er Jahre von Dissidenten um den Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow gegründete Organisation Memorial galt aber lange als unantastbar.
Aus Sicht der Unterstützer von Memorial wird der nach dem Zerfall der Sowjetunion vor fast genau 30 Jahren ins Rollen gekommene Demokratisierungsprozess in Russland mit dem Urteil gegen Memorial endgültig erstickt. „Schande“, riefen Unterstützer nach der Urteilsverkündung vor dem Gericht in Moskau. Mehrere Demonstranten wurden festgenommen.
Russland sei auf Memorial angewiesen, die Organisation betreibe wichtige historische Aufarbeitung, sagte die Demonstrantin Maria Birjukowa der Nachrichtenagentur AFP. „Memorial sagt die Wahrheit, in keiner Weise verunglimpft das das Land.“ Leonid Bachnow, dessen Großvater 1937 den stalinistischen Säuberungen zum Opfer gefallen war, bezeichnete die Schließung von Memorial als „Tragödie“ für Russland.
Doch gerade die von Memorial forcierte Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen ist dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ein Dorn im Auge. Memorial habe ein „falsches Bild der UdSSR als Terrorstaat geschaffen“ und „die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg verungimpft“, warf die Staatsanwaltschaft Memorial in den Schlussplädoyers vor. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft Memorial auch beschuldigt, „Nazi-Verbrecher rehabilitiert“ zu haben.
Im offiziellen Geschichtsbild des Kreml wird Stalin fast ausschließlich als Kriegsheld und Bezwinger des Nationalsozialismus gewürdigt. Die Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen wird in dieser Lesart als Verharmlosung des Nationalsozialismus gedeutet.
Mit dem Verbot von Memorial bekämpfe der russische Staat „die Auseinandersetzung mit der eigenen Unrechtsgeschichte“, kritisierten am Dienstag eine Reihe deutscher Organisation, darunter der Deutschland-Zweig von Amnesty International und die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Die Bundesregierung und die Europäische Union müssten „alles in ihren Möglichkeiten Stehende zum Erhalt der Arbeit und des Archivs von Memorial und zum Schutz seiner Mitarbeiter_innen“ tun.
Das Archiv von Memorial International ist die wichtigste Sammlung historischer Dokumente zu den stalinistischen Verbrechen. Es umfasst unter anderem 3,5 Millionen Zeitzeugenbiographien.
Inwiefern sich die Organisation neu aufstellen könnte, war zunächst unklar. Die Anwältin von Memorial, Maria Eismont, betonte nach der Urteilsverkündung vor Journalisten: „Dies ist nicht das Ende.“ Die Organisation werde gegen das Urteil vorgehen und ihre Arbeit fortsetzen.
Derweil wird vor einem anderen Gericht in Moskau über eine Auflösung einer wichtigen Unterorganisation von Memorial verhandelt: Am Mittwoch beginnt die nächste Anhörung im Prozess gegen das Menschenrechtszentrum Memorial. Auch ihm wirft die Staatsanwaltschaft Verstöße gegen das Ausländische-Agenten-Gesetz vor, hinzu kommt der Vorwurf, das Zentrum habe „Terrorismus und Extremismus“ verherrlicht.
Das Menschenrechtszentrum Memorial setzt sich für politische Gefangene in Russland ein und machte in der Vergangenheit auch immer wieder auf Menschenrechtsverletzungen unter anderem in der russischen Teilrepublik Tschetschenien aufmerksam. In diesem Jahr wies es dabei auch auf das Schicksal des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny hin.
Dessen Team meldete am Dienstag die Festnahme von Unterstützern des Oppositionspolitikers. In den Regionen Irkutsk und Tomsk wurden demnach die Büroleiter von Nawalnys inzwischen geschlossener Regionalorganisation in Gewahrsam genommen.