Sie heißen Daniil, Marta oder Denis, sind Student, Ärztin und Architekt. Doch an diesem Wintertag robben sie mit 47 anderen Städtern in Uniform durch ein Waldstück am Rand von Kiew, zielen mit Kalaschnikow-Attrappen auf einen unsichtbaren Feind, während um sie herum Rauchgranaten explodieren. Ihre Aufgabe: einen Hinterhalt russischer Soldaten abwehren. Die Gruppe gehört zu einer wachsenden Zahl Ukrainer, die sich zur Verteidigung ihres Lands gegen eine russische Invasion als Reservisten ausbilden lassen.
„Jeder Einwohner dieses Landes muss wissen, was zu tun ist, wenn der Feind in unser Land einfällt“, sagt der 19-jährige Student Daniil Larin zwischen zwei Übungen auf dem Gelände einer verlassenen Teerfabrik. Er ist noch nicht lange dabei. Seine Teamkollegin Marta Juskiw ist dagegen schon seit April Teil der Reservisten. Seitdem trainiert die 51-jährige Ärztin jeden Samstag mehrere Stunden lang den Umgang mit Kriegsverwundungen und Gewehren.
Seit Russland im vergangenen April erstmals 100.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammenzog, hält sie die Gefahr einer russischen Invasion für hoch. Nun stehen erneut zehntausende russische Soldaten an der Grenze und Juskiw befürchtet, dass die russische Armee bei einem Einmarsch den 215.000 regulären ukrainischen Soldaten „weit überlegen“ ist.
„Wir haben nur dann eine Chance, eine Invasion abzuwehren, wenn jeder bereit ist, unser Land zu verteidigen“, sagt sie. Dafür hat sie in die eigene Tasche gegriffen, um Helm, kugelsichere Weste und Schutzbrille selbst zu kaufen – nur die Uniform wird vom Militär gestellt.
2014 hatte Moskau die Halbinsel Krim annektiert, fast ebenso lange kämpfen ukrainische Soldaten im Osten des Landes gegen pro-russische Milizen. Wegen des aktuellen massiven russischen Truppenaufmarsches befürchtet der Westen einen Großangriff auf das Land. Russland dementiert jegliche Angriffspläne, gleichzeitig aber warnt Kremlchef Wladimir Putin vor Vergeltungsmaßnahmen, sollte sich die Nato weiter gen Osten erweitern.
Vor diesem Hintergrund lassen sich immer mehr Ukrainer zu Reservisten ausbilden, inzwischen sind es rund 100.000. Die 50 Teilnehmer des samstäglichen Trainings bei Kiew sind Teil eines Bataillons, dessen Aufgabe es wäre, Ukraines Hauptstadt im Falle eines Angriffs zu schützen. Sie müssten dann Verwaltungsgebäude und lebenswichtige Infrastruktur sichern und bei der Evakuierung der Einwohner helfen, wie einer der Kommandeure, Wadim Osirni, erklärt.
Diese Männer und Frauen müssten jederzeit bereit sein, „ihre Waffen entgegen zu nehmen und ihre Heimat zu verteidigen“, sagt Osirni.
Denis Semirog-Orlik sieht das genauso. Der 41-jährige Architekt gehört zu den erfahrensten Reservisten der kleinen Gruppe. Er fühlt sich bereit dazu, sich einer echten Offensive entgegenzustellen.
„Ich lebe nun schon seit acht Jahren mit dem Gedanken, dass Russland uns solange nicht in Ruhe lassen wird, bis wir ihm eins auf die Nase geben“, sagt er. Ihm sei klar, dass er im Falle einer Invasion seine Baupläne vergessen muss. „Vielleicht werde ich einberufen – und dann muss ich mich wie ein Soldat verhalten.“