Russlands Einmarsch in die Ukraine markiert einen Wendepunkt in der Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. „Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, erklärte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am Donnerstag. Schon zu Wochenbeginn hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gewarnt: Wer Kreml-Chef Wladimir Putin in den vergangenen Jahren zugehört habe, wisse, dass dieser „tatsächlich vorhat, etwas zu verändern an der Geografie Europas“.
Nimmt man Putin beim Wort, bedroht sein imperiales Geschichtsbild nicht nur die Ukraine. Viele im Westen rätseln, wie weit der Kreml-Herrscher bereit ist zu gehen. Ein Überblick über seine Schriften und Reden der vergangenen Monate:
Die große russische Nation
Im Juli 2020 erscheint ein historischer Aufsatz des russischen Präsidenten, in dem er die Geschichte des Zweiten Weltkrieges weitgehend umdeutet. Im Mittelpunkt stehen die Rechtfertigung des Hitler-Stalin-Paktes 1939 und eine Negierung jeder Mitverantwortung der Sowjetunion für die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges. Stattdessen spricht Putin Polen eine zentrale Mitschuld am Beginn des Zweiten Weltkrieges zu – eine Darstellung, die dem geschichtswissenschaftlichen Konsens vollständig entgegensteht.
Im Juli 2021 erscheint auf der Kreml-Website ein weiterer Aufsatz unter dem Namen Wladimir Putins – diesmal geht es um die angebliche „historische Einheit der Russen und Ukrainer“. Die Kernthese des Textes wird Putin in seiner Rede zur Anerkennung der Separatistengebiete am 21. Februar 2022 wiederholen: Russen, Ukrainer und übrigens auch Belarussen seien Teil „einer großen russischen Nation, eines dreieinigen Volkes“.
Der Westen als Aggressor
Dem Westen wirft Putin vor, in der Ukraine ein „Anti-Russland“ etablieren zu wollen. „Schritt für Schritt“ hätten die USA und EU „die Ukraine in ein gefährliches geopolitisches Spiel“ gezogen, „dessen Ziel es ist, die Ukraine in einen Puffer zwischen Europa und Russland, in ein Aufmarschgebiet gegen Russland zu verwandeln“.
Schon kurz nach der Veröffentlichung von Putins Ukraine-Aufsatz äußerte der Historiker Andreas Kappeler in der Fachzeitschrift „Osteuropa“ die Sorge, Russland könne „die angebliche Verfolgung und Diskriminierung der ethnischen Russen und Russischsprachigen in der Ukraine zum Vorwand für indirekte oder gar direkte Interventionen nehmen“. Die Rede Putins von der „russischen Welt“ erinnere „fatal an die revisionistische Politik Deutschlands, Ungarns und anderer Mächte“ in der Zeit zwischen den Weltkriegen, warnte Kappeler.
Nato zurück auf den Stand von 1997
Auf einem revisionistischen Geschichtsbild gründen auch die Forderungen, die Putin im Dezember offiziell der Nato präsentiert: In einem vom russischen Außenministerium veröffentlichten Vertragsentwurf versucht sich Moskau daran, die Geschichte zurück ins 20. Jahrhundert zu drehen: Die Nato soll ihre Streitkräfte auf den Stand von 1997 zurückziehen, als noch kein Staat des ehemaligen Warschauer Paktes der westlichen Allianz beigetreten war.
Und eine weitere Osterweiterung des Militärbündnisses soll schriftlich ausgeschlossen werden: In einem Vertragsentwurf, der den USA vorgelegt wird, heißt es, Washington solle „den früheren sozialistischen Sowjetrepubliken den Beitritt zu der Allianz versagen“.
Sorge bei den ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes
Die von der Nato und den USA zurückgewiesenen russischen Forderungen betrafen allen voran die Ukraine, aber auch Georgien, dem das westliche Militärbündnis 2008 einen möglichen Beitritt in Aussicht stellte, sowie die Republik Moldau, an deren Spitze seit Ende 2020 die prowestliche Präsidentin Maia Sandu steht.
Große Befürchtungen hegen angesichts der russischen Forderungen aber auch die baltischen Staaten, die der Nato im Zuge der Zweiten Osterweiterung 2004 beitraten. Litauen, das im Südwesten an die russische Exklave Kaliningrad grenzt und im Osten eine lange Grenze zu Belarus hat, verhängte nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine am Donnerstag den Ausnahmezustand.
Wiederholt machte Putin zudem deutlich, dass seine Forderungen sich nicht allein auf die ehemaligen Sowjetrepubliken beziehen, sondern auf alle Staaten der früheren sowjetischen Einflusssphäre. Am 21. Januar verlangt Russland ausdrücklich den Abzug von Nato-Truppen aus Rumänien und Bulgarien. Potenziell durch die russischen Forderungen bedroht sehen sich auch andere Staaten, die ab 1999 der Nato beitraten und bis zum Ende des Kalten Krieges Mitglieder des Warschauer Paktes waren, darunter Polen, Tschechien und die Slowakei.