Die russische Offensive in der Ukraine kommt nur stockend voran. Das wirft Fragen zum Zustand der russischen Geheimdienste auf: Haben sie versagt? Oder haben sie Kreml-Chef Wladimir Putin nur die Informationen präsentiert, die er hören wollte? Der Kreml rechnete nach seiner Invasion am 24. Februar mit einem schnellen Sieg – darin sind sich Beobachter einig. Statt erbitterten Widerstands erwartete er offenbar eher einen freundlichen Empfang der russischen Soldaten in der Ukraine. „Man hat Putin die tatsächlichen Verhältnisse nicht klar gemacht“, sagt ein Mitarbeiter des französischen Geheimdienstes. „Das System schottet sich ab, damit sie ihm nicht zu viele schlechte Nachrichten beibringen müssen.“
Einen Eindruck von Putins Umgang mit den Diensten vermittelte eine im Fernsehen übertragene Szene drei Tage vor Kriegsbeginn, bei der der Staatschef den stammelnden Chef des Auslandsgeheimdienstes, Sergej Naryschkin, herunterputzte.
Vor wenigen Tagen berichteten russische Journalisten in der unabhängigen Onlinezeitung „Medusa“ mit Sitz im lettischen Riga, dass der Leiter der Abteilung 5 des Inlandsgeheimdienstes FSB, General Sergej Besseda, und sein Stellvertreter Anatoli Boluch unter Hausarrest gestellt worden seien. Ein vom ehemaligen Oligarchen und heutigen Oppositionspolitiker Michail Chodorkowski finanziertes Portal behauptet hingegen, Besseda sei zwar verhört worden, aber noch im Dienst. Boluch wurde demnach entlassen.
In jedem Fall scheint die für die Ukraine zuständige Abteilung innerhalb des Geheimdienstes ins Visier des Kremls geraten zu sein. Der in Frankreich lebende russische Dissident Wladimir Osetschkin veröffentlichte auf seiner Website eine Reihe von Briefen eines angeblichen Whistleblowers mit dem Namen „Wind of Change“, der behauptet, im FSB herrsche ein Klima der Angst, weil der Geheimdienst es versäumt habe, vor dem Widerstand gegen die russische Invasion zu warnen.
„Putin führt wahrscheinlich interne Säuberungen unter seinen Generälen und Geheimdienstmitarbeitern durch“, urteilt das Institute for the Study of War aus den USA. „Er tut dies entweder, um sein Gesicht zu wahren, nachdem er ihre Einschätzungen bei seiner eigenen Entscheidungsfindung vor der Invasion nicht berücksichtigt hat, oder als Vergeltungsmaßnahme für fehlerhafte Informationen, die sie ihm seiner Meinung nach geliefert haben.“
Es könne „sehr gut sein, dass es im Kreml eine verzerrte Wahrnehmung gab“, verlautet aus einem westlichen Geheimdienst. „Man habe nur sehen wollen, was die eigenen Vorurteile bestätigte. Und was sie wahrscheinlich nicht richtig gesehen haben, ist, dass die ukrainische Armee, die die Krim ohne Gegenwehr hat einnehmen lassen, heute nicht mehr dieselbe ist wie 2014.“
Auch mit ihrer Einschätzung der ukrainischen Gesellschaft lagen die russischen Dienste offenbar falsch. Wenn Putin behauptet, er wolle die Ukrainer von ihrem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj „befreien“, ist es nach Ansicht vieler Beobachter nicht ausgeschlossen, dass er selbst davon überzeugt ist.
„Vor einer solchen Operation schaut man sich zuerst den Zustand der Bevölkerung an, in welcher Situation man operieren wird“, sagt ein ranghoher französischer Beamter und bescheinigt den russischen Geheimdiensten eine „sehr schlechte Analyse“.
Auch die geschlossene und harsche Reaktion des Westens auf den Angriffskrieg war in Moskau anscheinend nicht erwartet worden. Trotz seiner großen Präsenz in Berlin habe der russische Geheimdienst „die strategische Wende der deutschen Regierung nicht vorausgesehen“, schreibt die auf Geheimdienste spezialisierte Website Intelligence Online. „Moskau ging außerdem anfangs davon aus, dass Paris im Falle einer Intervention in der Ukraine eine nahezu neutrale Position beibehalten würde.“
sp/bfi
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