Das Traumbuch“ heißt das Werk, das Martin Walser seinen Lesern zu seinem 95. Geburtstag am Donnerstag spendiert. Seiner offensichtlich ungebrochenen Schöpfungskraft gibt er darin Platz, sinniert etwa über den Selbstkostenpreis Gottes. In seinem hohen Alter ist Walser nun quasi der Methusalem der deutschen Literatur, bis zu seinem Tod will er schreiben.
Walser skizzierte schon vor rund 20 Jahren in einem Interview mit der „taz“, welch große Bedeutung Träume seiner Meinung nach für den Menschen haben: „Träume sind unser Größtes, unser Unausschöpfbares.“ Dies breitet er jetzt in seinem neuen Werk aus, so wie Walser gern in seinen Werken sein Inneres nach außen kehrt. So hinterließ er in seinem 2019 veröffentlichten „Spätwerk“ auch seine Sicht aufs Alter: „Das Alter ist ein Zwergenstaat, regiert von jungen Riesen.“
Es ist erstaunlich, mit welcher Produktivität Walser noch immer schreibt. Fast in jedem Jahr erscheint von ihm etwas Neues. Das unzählige Seiten umfassende Werk zeigt sich auch im Umfang der Manuskripte und Texte, die das Deutsche Literaturarchiv in Marbach kürzlich von Walser erwarb.
Der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zufolge gehören allein 75.000 von Hand geschriebene Seiten zu der Sammlung. Das bedeutet, dass Walser in den 34.675 Tagen seines 95-jährigen Lebens rechnerisch an jedem Tag mehr als zwei Seiten per Hand schrieb.
Aber natürlich bemisst sich die Bedeutung des mit nahezu allen bedeutenden Literaturpreisen – mit Ausnahme des Literaturnobelpreises – ausgezeichneten Walsers nicht an der schieren Masse, sondern am inhaltlichen Gewicht. Sein Rowohlt-Verlag bezeichnete ihn schon vor Jahren als den „letzten Großautor“ einer deutschen Schriftstellergeneration um Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen, Max Frisch, Wolfgang Hildesheimer, Uwe Johnson oder Günter Grass.
Walser kam am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee zur Welt, der Region blieb er sein Leben lang verbunden. Nach Kriegsende holte Walser das Abitur nach und studierte dann Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie. Er arbeitete als Reporter, schrieb Hörspiele und promovierte über Franz Kafka.
Mit 30 Jahren veröffentlichte Walser seinen ersten Roman „Ehen in Philippsburg“, der ihm direkt zum Durchbruch verhalf. In diese Zeit fiel auch die Familiengründung mit seiner Frau Katharina „Käthe“ Neuner-Jehle, mit der er 2020 den 70. Hochzeitstag feiern konnte.
Das Paar hat vier Töchter. Unehelich hat Walser außerdem den Sohn Jakob Augstein – der wahre Vater des in der Öffentlichkeit lange als Kind von „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein geltenden Publizisten wurde erst spät öffentlich.
Walsers erfolgreichstes Buch wurde der 1978 erschienene Millionenbestseller „Ein fliehendes Pferd“, auch der „Tod eines Kritikers“ 2002 war ein Publikumserfolg. Mit letzterem Werk entfachte Walser – einmal mehr – eine heftige Debatte.
Das Buch wurde als Abrechnung mit dem inzwischen gestorbenen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki verstanden. Der damalige Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Frank Schirrmacher, sah schlicht als Thema „den Mord an einem Juden“ als Buchmotiv.
Die Diskussion knüpfte an eine andere Debatte an, die Walser wenige Jahre vorher ausgelöst hatte. Bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels klagte er 1998 in der Frankfurter Paulskirche über eine „Instrumentalisierung“ des Holocausts. Der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, sprach von „geistiger Brandstiftung“.
Walser fühlte sich missverstanden, scheute aber nie den Streit. Der Philosoph Jürgen Habermas war einst sein Freund, längst gibt es nur noch Gegnerschaft. Walser hält Streit aber für nötig – und für sich selbst das Schreiben für lebensnotwendig.
Da bei ihm schon seit vielen Jahren von „Alterswerk“ geschrieben wird, nennt er seine aktuellen Werke spöttisch „Altersalterswerk“. Es bleibt die Frage, ob der Literatur-Methulsam als nächstes das „Altersaltersalterswerk“ ansteuert.