Nein, diese Studie belegt keinen Zusammenhang zwischen Herzerkrankungen und mRNA-Impfstoffen

Facebook-Screenshot der Falschbehauptung: 10.12.2021
Facebook-Screenshot der Falschbehauptung: 10.12.2021

Hunderte User haben seit Anfang Dezember ein Video des Impfgegners Dr. Vernon Coleman auf Facebook geteilt. Auch über WhatsApp haben User AFP auf den Clip aufmerksam gemacht. Darin berichtet Coleman von einer Studie, welche einen Zusammenhang zwischen Herzerkrankungen und mRNA-Impfstoffen belegen soll. Die Fachzeitschrift hinter der Veröffentlichung hat allerdings Bedenken zur Studie geäußert. Expertinnen und Experten sehen keinen solchen Zusammenhang.

Hunderte Nutzerinnen und Nutzer haben Colemans Video auf Facebook geteilt (hier). Auf Telegram sahen Zehntausende die Behauptungen zu Herzerkrankungen nach mRNA-Impfungen (hierhier).

Die Falschbehauptung

In seinem Video erklärt Vernon Coleman, er habe vor einigen Stunden von einem Bekannten den Hinweis auf eine Studie erhalten. Zudem nennt er das Datum: den 22. November 2021. Die in der Fachzeitschrift „Circulation“ erschienene Studie sei der Beweis dafür, dass das „Impf-Experiment“ nun aufhören müsse. Darin heiße es: „Wir kommen zu dem Schluss, dass die mRNA-Vakzine die Entzündung des Endothels und die Infiltration des Herzmuskels durch T-Zellen drastisch erhöht und möglicherweise für die beobachtete Zunahme von Thrombose, Kardiomyopathie und anderen vaskulären Ereignissen nach der Impfung verantwortlich ist.“ Vor solchen Herzerkrankungen durch die Impfung habe er bereits zuvor gewarnt, sagt Coleman weiter. Nun habe er den Beweis. Die mRNA-Impfungen würden zudem weder die Ansteckung noch die Verbreitung des Virus verhindern.

Facebook-Screenshot der Falschbehauptung: 10.12.2021

Der Sprecher des im Netz verbreiteten Videos wird auf Facebook als Dr. Vernon Coleman vorgestellt. Coleman ist ein britischer Allgemeinmediziner, darf allerdings heute nicht mehr als Arzt praktizieren und ist in wissenschaftlichen Kreisen vor allem wegen seiner Leugnung der Existenz von Aids in Verruf geraten. Mehrere Medien berichteten bereits über Colemans Verbreitung verschwörungsideologischer Inhalte und Falschinformationen (hierhierhier).

Zudem ist Coleman Autor zahlreicher pseudowissenschaftlicher Veröffentlichungen, welche Impfungen diskreditieren, so beispielsweise: „Wie Sie Ihren Arzt davon abhalten, Sie zu töten“ oder „Jeder, der Ihnen sagt, Impfstoffe seien sicher und wirksam, lügt“ (hierhier).

Bereits in der Vergangenheit verbreitete der britische Arzt Behauptungen, wonach durch das Impfprogramm gegen Corona die Zukunft der Menschheit in Gefahr sei. Dies konnte AFP als falsch oder fehlerhaft widerlegen (hier).

Was hat es mit der Studie auf sich?

Coleman beruft sich für seine Behauptungen auf eine Studie, welche tatsächlich am 8. November in der Fachzeitschrift für kardiovaskuläre Gesundheit „Circulation“ veröffentlicht wurde. Dabei handelt es sich um eine wissenschaftliche Veröffentlichung der „American Heart Association“. Autor ist Steven Gundry, laut eigener Website Herzchirurg.

Coleman zitiert in seinem Video den letzten Satz aus dem Abstract der Studie, also der Zuammenfassung. Darin heißt es in deutscher Übersetzung: „Wir kommen zum Schluss, dass die mRNA-Vakzine die Entzündung des Endothels und die Infiltration des Herzmuskels durch T-Zellen drastisch erhöht und möglicherweise für die beobachtete Zunahme von Thrombose, Kardiomyopathie und anderen vaskulären Ereignissen nach der Impfung verantwortlich ist.“ Demnach stünde die Impfung in Zusammenhang mit Herzerkrankungen, Infarkten oder Blutgerinnseln. Im Titel heißt es, so sei das Risiko eines akuten Koronarsyndroms erhöht, darunter sind mehrere Herz-Kreislauf-Beschwerden zu verstehen.

Am 24. November veröffentlichte „Circulation“ jedoch einen Warnhinweis zu der Studie, welcher seitdem unter dem Studientitel zu sehen ist. Darin heißt es, die American Heart Association sei kurz nach Veröffentlichung der Arbeit darauf aufmerksam geworden, dass möglicherweise Fehler im Abstract der Studie vorliegen.

„Insbesondere gibt es mehrere Tippfehler, in der Zusammenfassung fehlen Daten zur myokardialen T-Zell-Infiltration, es werden keine statistischen Analysen zur Signifikanz vorgelegt, und der Autor stellt nicht klar, dass nur anekdotische Daten verwendet wurden.“

Anekdotische Daten bezeichnen in Abgrenzung zu empirischen Daten keine systematischen Studien, sondern Schlüsse, die aus Einzelfällen oder sogar Hörensagen gezogen werden. Sie haben deshalb nur eine sehr schwache Aussagekraft (mehr dazu hier).

Daher sei das Abstract aktuell nicht verlässlich und es müsse eine Korrektur vorgenommen werden, heißt es bei „Circulation“.

Mehrere Expertinnen und Experten äußerten im Netz ebenfalls ihre Zweifel an der Verlässlichkeit des Abstracts. So wies beispielsweise die Epidemiologin Dr. Tara Smith über Twitter darauf hin, dass die Veröffentlichung nicht einmal peer-reviewed sei (hier), das heißt, sie wurde noch nicht von anderen Forscherinnen und Forschern begutachtet.

Auch Prof. Dr. Leif Erik Sander, Experte im Bereich Infektiologie und Pneumologie an der Berliner Charité, erklärte auf Twitter zur Studie, es handele sich um unseriöse, pseudowissenschaftliche Desinformation und es sei neben dem Abstract keine volle Publikation der Studiendaten verfügbar. „Die ‘Daten’ geben keinen Hinweis auf das im Titel suggerierte Risiko von akutem Koronarsyndrom (ACS).”

„Es wurden (angeblich) eine Reihe von unspezifischen Entzündungsmarkern bestimmt, die nach einer Impfung natürlich ansteigen können. Keine dieser Werte sind spezifisch für ein ACS (Anm. d. Red.: akutes Koronarsyndrom). Die Studie liefert keine Daten für den Claim im Titel.“

Auf AFP-Anfrage erklärte Prof. Dr. Michael Böhm, Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie, am 14. Dezember: Bei der Studie sei ein Testsystem angewandt worden, welches sich in der kardiologischen Literatur nicht durchgesetzt habe. Eine Assoziation von Impfungen mit Herzinfarkten und Komplikationen sei auf Basis der verwendeten Biomarker (Anm. d. Red.: bestimmte körperliche Eigenschaften oder Merkmale) nicht ausreichend belegt.

„Dieses Abstract hat eine sehr hohe Aufmerksamkeit erregt, obwohl Schlussfolgerungen daraus zurzeit nicht möglich sind.“

Auch Prof. Steffen Massberg, Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik I an der LMU München, erklärte am 14. Dezember gegenüber AFP:

„Soweit beschrieben, werden für den verwendeten PULS-Score (Anm. d. Red.: die Messmethode) Entzündungsmediatoren gemessen. Es ist richtig, dass chronisch erhöhte Entzündungsmediatoren mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen assoziiert sind. Durch den Impfstoff wird jedoch eine akute Immunreaktion ausgelöst. Hierbei sind vorübergehend erhöhte Entzündungsmediatoren wie im Rahmen eines Infekts zu erwarten und für eine adäquate Immunreaktion essenziell. Zudem fehlt eine Kontrollgruppe, beispielsweise mit Infektion durch SARS-CoV-2.“

Die angeblichen Komplikationen lassen sich laut Massberg so aber nicht nachweisen.

Steven Gundry, der Autor der Studie, wirbt auf seiner Webseite aktuell für von ihm entwickelte Ernährungskonzepte und eine Auswahl an Lebensmitteln. Kritikerinnen und Kritiker erklärten jedoch, Gundrys Ernährungsratgebern fehle die Grundlage (hier). Diese seien Nonsens (hier) und falsch (hier). Zudem vertreibe Gundry passend zu seinem Ratgeber eigene Nahrungsergänzungsmittel (hier).

Kommt es zu Herzerkrankungen nach mRNA-Impfungen?

Leif Erik Sander verweist in seinem Tweet zudem auf gegenteilige Erkenntnisse der Wissenschaft zu Herzerkrankungen nach Impfungen. Dafür zieht er eine in der Fachzeitschrift JAMA veröffentlichte Studie heran, welche Daten von mehr als sechs Millionen Menschen ausgewertet hat:

„Große, seriöse Studien an Millionen von Impflingen, die das tatsächliche Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen (Kardiovaskuläre Events etc) nach mRNA Impfung analysiert haben, finden keinerlei erhöhtes Risiko in Verbindung mit der Impfung.“

Steffen Massberg erläuterte zudem, bei der Impfung mit mRNA-Impfstoffen bestehe bei jungen Männern das seltene Risiko einer Herzmuskelentzündung mit meist mildem Verlauf. Aber:

„Wichtig ist vor allem der Vergleich der Impfung mit der SARS-CoV-2-Infektion. Hier ist das Risiko für eine Herzmuskelentzündung in der Gesamtbevölkerung etwa 1000-fach erhöht. Der Nutzen überwiegt daher das Risiko deutlich. Daher ist die Impfung dringend zu empfehlen.“

Auch Thrombosen seien nach mRNA-Impfungen extrem selten und würden bei Infektionen mit Sars-CoV-2 um ein Vielfaches häufiger auftreten. Ohne Impfung könne eine Infektion mittel- und langfristig nicht vermieden werden. Die Impfung mit einem mRNA-Impfstoff sei ausdrücklich zu empfehlen.

AFP widerlegte in der Vergangenheit bereits mehrfach Behauptungen zu angeblich gestiegenen Herzinfarkt-Zahlen nach Impfungen gegen das Coronavirus (hierhier).

Im jüngsten Sicherheitsbericht des deutschen Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) vom 26. Oktober wird vor allem über sehr seltene Fälle von Myokarditis und Perikarditis berichtet, womit eine Entzündung des Herzmuskels oder Herzbeutels gemeint ist. Die meisten Patientinnen und Patienten sprächen dabei gut auf Behandlungen und Ruhe an und fühlten sich schnell besser.

Die Daten zum Thromboserisiko sind laut PEI auf Basis der bisherigen Studienergebnisse nicht übereinstimmend. Jedoch liege das Risiko bei einer natürlichen Infektion stets höher als nach Impfungen.

Auch das österreichische Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) hat für Österreich bis zum 19. November 2021 keine Herzinfarkte im „Bericht über Meldungen vermuteter Nebenwirkungen nach Impfungen zum Schutz vor COVID-19″ als Nebenwirkungen aufgeführt. Durchaus enthalten im Bericht sind allerdings 150 Fälle einer Herzmuskelentzündung in zeitlicher Nähe zur Impfung.

Können Impfungen die Ansteckung und Ausbreitung des Virus verhindern?

Die Wirksamkeit der Impfstoffe gegen die Verbreitung des Coronavirus wird immer wieder infrage gestellt. AFP hat in der Vergangenheit bereits mehrfach ähnliche Behauptungen zu Corona-Impfungen überprüft (hierhierhier).

So hatte AFP am 5. August den Impfstoffforscher Dr. Torben Schiffner vom Universitätsklinikum Leipzig zu Unterschieden zwischen Geimpften und Ungeimpften befragt:

„Es gibt inzwischen eine große Anzahl von Studien aus mehreren Ländern, die eindeutig belegen, dass Impfstoffe einen hohen Schutz vor einer Infektion mit Sars-CoV-2 bieten. Dies gilt sowohl für leichte, insbesondere aber auch für schwere Krankheitsverläufe. Weiterhin ist eine Weitergabe des Virus bei Geimpften deutlich unwahrscheinlicher als bei Ungeimpften.“

Alle vier in Deutschland zugelassenen Covid-19-Impfstoffe bieten zwar keinen 100-prozentigen Schutz vor Infektionen. Sie reduzieren allerdings die Wahrscheinlichkeit, sich und andere zu infizieren. Wie genau der Impfschutz hilft, Ansteckungen in einer Gemeinschaft zu verhindern, erklärt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hier. Je mehr Menschen geimpft seien, desto weniger Menschen kommen demnach mit dem Virus in Kontakt. Bei genügend Geimpften könne sich dieser gar nicht mehr ausbreiten.

Auch deutsche Behörden sprechen von einer hohen Wirksamkeit gegen Infektionen. So schreibt das Robert-Koch-Institut (RKI): „Nach derzeitigem Kenntnisstand (07.12.2021) bieten die COVID-19-mRNA-Impfstoffe Comirnaty (BioNTech/Pfizer) und Spikevax (Moderna) sowie der Vektor-Impfstoff Vaxzevria (AstraZeneca) eine hohe Wirksamkeit von etwa 90 Prozent gegen eine schwere COVID-19-Erkrankung (z. B. Behandlung im Krankenhaus) und eine Wirksamkeit von etwa 75 Prozent gegen eine symptomatische SARS-CoV-2-Infektion mit Delta.“

Für Moderna sprechen die US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) basierend auf klinischen Studien von einer Wirksamkeit von 94,1 Prozent. Beim Biontech-Impfstoff liege die Wirksamkeit bei 95 Prozent basierend auf klinischen Versuchen.

Im aktuellen Wochenbericht des Robert-Koch-Instituts vom 9. Dezember 2021 heißt es: „Zusammengefasst bestätigen die nach Impfstatus dargestellten Inzidenzen, die Anzahl und Verteilung der Impfdurchbrüche sowie die nach der Screening-Methode geschätzte Wirksamkeit der eingesetzten Impfstoffe die hohe Wirksamkeit der COVID-19-Impfung aus den klinischen Studien.“

Weiter heißt es, die Wirksamkeit der Impfstoffe gegen die seit Neuestem auch in Deutschland nachgewiesene Omikron-Variante des Virus sei noch nicht endgültig zu beurteilen. Laut dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC, Stand 2. Dezember) könnte Omikron innerhalb einiger Monate mehr als die Hälfte der nachgewiesenen Infektionen in Europa ausmachen.

Fazit

Die von Coleman genannte Studie kann nicht als Beweis für die Gefährlichkeit der mRNA-Impfungen herangezogen werden. Die zuständige Fachzeitschrift hat Bedenken zur Verlässlichkeit geäußert. Expertinnen und Experten betrachten die Studie als Desinformation. Das RKI bestätigt die Wirksamkeit der mRNA-Impfungen. Abzuwarten bleibt, wie sich diese mit der Ausbreitung der Omikron-Variante verändert.

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