Nach der Vorstellung des Gutachtens zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising hat die Bundesregierung nachdrücklich eine vollständig Aufklärung des Missbrauchskandals gefordert. „Der Missbrauch und das anschließende Umgehen mit diesen Taten machen fassungslos“, sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann am Freitag in Berlin. Politiker der Ampelkoalition, Opfervertreter und katholische Laien wollen die Aufarbeitung statt wie bisher durch die Kirche nun durch den Staat.
Das am Donnerstag vorgelegte Gutachten hatte bei sämtlichen Münchner Erzbischöfen seit dem Zweiten Weltkrieg Fehlverhalten festgestellt, darunter auch beim späteren Papst Benedikt XVI. und beim amtierenden Kardinal Reinhard Marx. Bei 42 noch lebenden und aktiven Geistlichen haben die Gutachter den Verdacht strafbaren Missbrauchshandelns, hier prüft die Staatsanwaltschaft München I mögliche Straftaten. Der 94 Jahre alte Papst Benedikt hatte gegenüber den Gutachtern eine Mitverantwortung strikt zurückgewiesen. Nach der Veröffentlichung des Gutachtens bekundete er „Schock und Scham“.
Die Vizeregierungssprecherin sagte, das Gutachten mache „erneut auf erschütternde Weise das Ausmaß des Missbrauchs und der Pflichtverletzung kirchlicher Würdenträger deutlich.“ Umso dringlicher seien nun „die vollständige Aufklärung und die umfassende Aufarbeitung“ der Taten sowie des Umgangs der Kirche damit, betonte sie. Ein Sprecher des Bundesjustizministeriums sagte, die Aufarbeitung sei „selbstverständlich keine innere Angelegenheit der Kirche“.
Vertreter von Missbrauchsopfern fordern schon länger, dass der bereits seit 2010 bekannte Missbrauchsskandal von unabhängigen Stellen aufgeklärt wird und nicht durch bisher zum großen Teil nur durch die Kirche beauftragte Gutachten. Auch Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder kritisierte die bisherige innerkirchliche Aufklärung: „Das hat vielleicht schon alles viel zu lange gedauert“. Das Münchner Gutachten sei ein „langer, schwieriger Blick in den Abgrund“. Die katholische Kirche müsse nun ihre Strukturen ändern, insbesondere gegenüber Tätern „null Toleranz“ zeigen.
Der religionspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Lars Castelluci, forderte in der „Augsburger Allgemeinen“ ein Ende der allein innerkirchlichen Aufklärung. Niemand könne „sich selbst aufklären – dafür gibt es unseren Rechtsstaat“. Es müsse nun „einen verbindlichen gemeinsamen und überprüfbaren Rahmen für die Aufarbeitung in ganz Deutschland“ geben. Als möglichen Weg nannte der Sozialdemokrat eine Aufwertung der unabhängigen Aufarbeitungskommission.
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, forderte ebenfalls einen stärkeren Einsatz der Politik bei der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche. „Wichtig wäre, dass die von mir im Jahr 2016 auf der Bundesebene bereits eingerichtete Aufarbeitungskommission, dass die nun mal endlich gesetzlich verankert wird – das ist sie noch nicht“, sagte Rörig im Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB). „Und dass dieser Kommission auch tatsächlich Kontroll-, Beratungs- und vielleicht auch Untersuchungsrechte eingeräumt werden.“
Rörig warf der Politik vor, bisher zu zurückhaltend bei der Aufarbeitung des kirchlichen Skandals gewesen zu sein. „Und mir wäre es wirklich wichtig, dass jetzt auch das Klein-Klein der Bundespolitik in die Mottenkiste der Vergangenheit gesteckt wird und die Ampelkoalition sich für ein konsequentes Aufarbeiten von sexualisierter Gewalt auch im kirchlichen Bereich entscheidet.“
Die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Irme Stetter-Karp, sagte im RBB, sie glaube „nicht mehr, dass die Kirche allein die Aufarbeitung schafft“. Es müsse die Frage gestellt werden, „ob es nicht ein besserer Weg wäre, wenn wir auf der politischen Seite im Sinne der Unabhängigkeit der Aufarbeitung mehr Einflussnahme hätten – beispielsweise über einen Ausschuss im Parlament, über eine Kommission, über eine Wahrheitskommission“.