Im weltweit ersten Prozess um Staatsfolter in Syrien hat das Koblenzer Oberlandesgericht (OLG) einen früheren Geheimdienstmitarbeiter am Donnerstag zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Richter sprachen den 58-jährigen Anwar R. wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 27-fachen Mordes, Folter und weiterer Delikte schuldig. Der frühere Mitarbeiter des Geheimdiensts des syrischen Machthabers Baschar al-Assad hatte demnach Vernehmungen in einem berüchtigten Gefängnis befehligt.
Menschenrechtsorganisationen würdigten das Koblenzer Urteil als bahnbrechend. Es sei „historisch“, sagte der Geschäftsführer von Human Rights Watch bei einer Pressekonferenz im schweizerischen Genf. Der Generalsekretär von Amnesty International Deutschland, Markus N. Beeko, erklärte, das Urteil sei ein „historisches Signal im weltweiten Kampf gegen die Straflosigkeit“. Weitere Prozesse in Deutschland und anderen Staaten müssten nun folgen.
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) nannte das Urteil ein Vorbild für andere Staaten. Die „Pionierarbeit“ des Koblenzer Gerichts verdiene es, „weltweit wahrgenommen zu werden“, teilte er mit. Er würde es daher begrüßen, wenn auch andere Staaten dem Beispiel des Prozesses folgen würden.
UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet bezeichnete das Koblenzer Urteil als „Meilenstein im Streben nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die schweren Menschenrechtsverletzungen, die in Syrien über mehr als ein Jahrzehnt begangen wurden“.
Nach Überzeugung des Gerichts hatte R. früher die Verhöre im Al-Khatib-Gefängnis in der syrischen Hauptstadt Damaskus geleitet. Der Polizeioffizier und Jurist, der seit 1995 für den syrischen Geheimdienst arbeitete, koordinierte demnach die Vernehmungen und teilte seine Untergebenen entsprechend ein. Teilweise habe er auch selbst an Verhören teilgenommen, führte die Vorsitzende Richterin Anne Kerber aus. Er habe sich als „leistungsbereiter Technokrat“ erwiesen, der im Tatzeitraum befördert worden sei.
Nach Überzeugung der Bundesanwaltschaft, die in dem Prozess die Anklage führte, hatte der Angeklagte die mit systematischer Folter verbundenen Verhörabläufe in der Haftanstalt zwischen April 2011 und September 2012 geleitet. In dieser Zeit wurden demnach mindestens 4000 Häftlinge mit Schlägen, Tritten und Elektroschocks gefoltert. Viele Gefangene starben.
Kerber würdigte in ihrer Urteilsbegründung insbesondere auch den Mut der knapp 80 überlebenden Opfern des Geheimdiensts, die in dem beinahe zweijährigen Verfahren gegen R. als Zeugen ausgesagt hatten. Sie hätten teils trotz großer Furcht vor der syrischen Assad-Regierung ausgesagt. „Dafür gilt ihnen mein ganzer Respekt.“
Der Schuldspruch in dem weltweit beachteten Prozess entsprach weitgehend der Forderung der Anklage. Die Verteidigung von R. hatte einen Freispruch gefordert. Nach ihrer Darstellung war der Angeklagte für Folterungen in Al-Khatib nicht verantwortlich. Nach dem Urteil kündigte die Verteidigung an, dagegen in Revision gehen zu wollen.
In dem im April 2020 gestarteten Prozess war auch ein zweiter Mann angeklagt, der als Untergebener von R. an den Folterungen beteiligt war. Ihn verurteilte das Koblenzer Gericht bereits vor fast einem Jahr im Februar 2021 in einem abgetrennten Verfahren wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu viereinhalb Jahren Haft. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Ins Rollen waren die Ermittlungen und das Verfahren gekommen, weil nach Deutschland geflüchtete frühere Folteropfer ihre Peiniger wiedererkannt hatten. Die beiden Beschuldigten wurden im rheinland-pfälzischen Zweibrücken sowie in Berlin festgenommen. Dass der Prozess in Deutschland stattfand, liegt am sogenannten Weltrechtsprinzip im Völkerstrafrecht. Demnach dürfen auch Taten verhandelt werden, die keinen unmittelbaren Bezug zu Deutschland haben.
Der Koblenzer Folterprozess habe gezeigt, was die internationale Strafjustiz nach dem Weltrechtsprinzip „bei allen Defiziten“ leisten könne, erklärte die Menschenrechtsorganisation European Centre for Constitutional and Human Rights. Das Urteil schaffe eine „solide Basis“ für andere Strafverfolger. Von einem „wichtigen Signal“ für Täter und Opfer sprach der Deutsche Richterbund. Kriegsverbrecher müssten mit Verfolgung rechnen.