Die Ukraine hat am Samstag einen „schnellen Rückzug“ der russischen Truppen aus dem Norden bestätigt. Moskau wolle nun im Süden und Osten „die Kontrolle über große besetzte Gebiete behalten“, sagte der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) startete unterdessen einen neuen Versuch, Menschen aus der eingekesselten Hafenstadt Mariupol in Sicherheit zu bringen.
Russland habe eine „andere Taktik gewählt“, erklärte Podoljak im Messengerdienst Telegram: Moskau wolle seine Truppen „nach Osten und Süden zurückziehen und dort die Kontrolle über große besetzte Gebiete behalten“ und dort „knallhart seine Bedingungen diktieren.“
Wegen des russischen Truppenrückzugs ans den Regionen Kiew und Tschernihiw im Norden hätten die ukrainischen Truppen „mehr als 30 Ortschaften“ zurückerobern können, sagte Oleksij Arestowitsch, ein weiterer Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, in einem am Samstag verbreiteten Video. Die russische Armee habe „eine große Zahl von Militärfahrzeugen ohne Treibstoff“ zurückgelassen.
Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus dem Kiewer Vorort Butscha wurden dort mindestens 20 Leichen entdeckt. Die Todesopfer, die zivile Kleidung trugen, wurden auf einer Straße in einem Wohngebiet gefunden, wie ein AFP-Journalist berichtete.
Mehrere Dutzend Kilometer nördlich von Kiew wurde der Leichnam eines seit fast drei Wochen vermissten ukrainischen Fotojournalisten entdeckt, wie die Präsidialverwaltung in Kiew mitteilte.
Präsident Selenskyj erwartete angesichts des nachlassenden militärischen Drucks im Norden „mächtige Angriffe“ im Osten, vor allem auf das seit Wochen belagerte Mariupol. Die Ukraine brauche nun „schwere Waffen“, um in besetzte Gebiete im Süden und Osten vorzustoßen „und die Russen so weit wie möglich zurückzudrängen“, sagte sein Berater Podoljak.
Laut Selenskyj konnten am Freitag mehr als 3000 Einwohner Mariupols mit Bussen und Privatfahrzeugen „gerettet“ werden. Ein AFP-Reporter in Saporischschja sah dort dutzende Busse mit Flüchtlingen. Viele von ihnen brachen bei Ankunft vor Erleichterung in Tränen aus. „Wir mussten weinen, als wir am Kontrollpunkt Soldaten mit ukrainischen Abzeichen sahen“, sagte Olena, die mit ihrer kleinen Tochter Mariupol hinter sich ließ.
Die Hafenstadt steht seit Wochen unter massivem Beschuss der russischen Streitkräfte. Nach ukrainischen Angaben wurden dort seit Kriegsbeginn mindestens 5000 Menschen getötet, etwa 160.000 Zivilisten sollen in der weitgehend zerstörten Stadt noch festsitzen. Die humanitäre Situation ist katastrophal; die Menschen haben kaum Zugang zu Wasser, Lebensmitteln und Strom.
Nach einer gescheiterten Evakuierungsaktion am Freitag machte sich ein Team des IKRK am Samstag erneut auf den Weg nach Mariupol. Damit die Evakuierung gelingen könne, müssten „die Parteien die Abkommen respektieren und die notwendigen Bedingungen und Sicherheitsgarantien schaffen“, forderte das IKRK.
Die stellvertretende ukrainische Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk kündigte für Samstag sieben Fluchtkorridore im Osten und Südosten an.
In der Nacht zum Samstag waren aus mehreren Regionen heftige Angriffe gemeldet worden: In der Großstadt Charkiw wurden Wohngebiete bombardiert, wie die Präsidentschaft mitteilte. Angegriffen wurden auch Orte in den Regionen Donezk und Luhansk im Osten sowie im Süden in der Region Cherson.
In Dnipro und Krementschuk im Landesinneren wurde nach ukrainischen Angaben wichtige Infrastruktur getroffen, darunter die größte Ölraffinerie des Landes. Das russische Verteidigungsministerium erklärte, mit „hochpräzisen Waffen“ Treibstofflager zerstört zu haben.
Die Aussichten für eine Verhandlungslösung zwischen der Ukraine und Russland verschlechterten sich, nachdem Russland am Freitag den ersten Angriff der ukrainischen Armee auf russischem Gebiet seit Kriegsbeginn gemeldet hatte. Demnach verursachten zwei ukrainische Hubschrauber einen Großbrand in einem Treibstofflager im westrussischen Belgorod. Die ukrainische Seite bestätigte diesen Angriff aber nicht.
Am Sonntag will sich der stellvertretende UN-Generalsekretär für humanitäre Angelegenheiten, Martin Griffiths, in Moskau für eine „humanitäre Waffenruhe“ in der Ukraine einsetzen, wie die UNO mitteilte.
Die Zahl der Kriegsflüchtlinge stieg derweil weiter an. Nach UN-Angaben sind inzwischen sind fast 4,14 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen.