Trotz einer Corona-Infektion in der vergangene Woche wird Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), wohl kaum auf die Teilnahme an der Sitzung des EZB-Rats am Gründonnerstag verzichten. Denn die Situation ist ernst: Rekordstände bei der Inflation und der Ukraine-Krieg lassen entschiedene Schritte der EZB immer dringlicher erscheinen. Mehrere Mitglieder des EZB-Rats signalisierten bereits, dass eine Zinserhöhung eher früher als später erfolgen sollte.
Bereits beim letzten Treffen des EZB-Rats im März hatten die Zentralbanker angekündigt, die EZB-Anleihekäufe bereits im Juni zu reduzieren und nicht erst im Oktober – im dritten Quartal könnte also Schluss sein mit den Liquiditätsspritzen für die Finanzmärkte. „Einige Zeit“ nach dem Ende der Anleihekäufe könne dann eine Änderung der Leitzinsen erfolgen.
Seitdem sind die Preise im Euroraum weiter gestiegen, im März erreichte die Inflation einen Höchststand von 7,5 Prozent. Angesichts der hohen Energie-, Rohstoff- und Nahrungsmittelpreise wächst die Sorge, dass der Ukraine-Krieg die wirtschaftliche Erholung nach der Corona-Pandemie abwürgen könnte.
Die US-Zentralbank Federal Reserve und die britische Bank of England hatten angesichts der hohen Teuerungsraten bereits Zinserhöhungen angekündigt – die EZB hielt sich bisher zurück. Zwar werden am Donnerstag keine grundlegenden Änderungen der Geldpolitik erwartet, doch jedes Wort der Zentralbanker wird auf die Goldwaage gelegt werden, um eine mögliche Kursänderung der EZB frühzeitig zu erkennen.
Die Ratssitzung am Donnerstag sei „kein Treffen für eine tatsächliche Änderung der Geldpolitik“, schätzt ING-Analyst Carsten Brzeski. Noch gebe es zu wenig Informationen über die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs. „Die Füße stillhalten und mit der angekündigten Reduktion der Anleihekäufe fortfahren scheint die einzig vernünftige Option zu sein“. Die große aktuelle Unsicherheit könne den EZB-Rat allerdings dazu zwingen, die eigenen Handlungsoptionen zumindest ein Stück weit einzugrenzen.
Der Vorsitzende des Bundesverbands der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR), Andreas Martin, forderte am Dienstag eine Ankündigung der Zinswende. „Nötig ist ein klares Signal der EZB, dass sie sich in der zweiten Jahreshälfte vom Minuszins verabschieden wird“, erklärte Martin. Eine Erhöhung des Einlagenzinses von minus 0,5 Prozent auf null Prozent solle „noch in diesem Jahr“ in Aussicht gestellt werden.
Für die Zentralbanker sind solche Forderungen ein zweischneidiges Schwert: Zwar ließe sich mit einer Leitzinserhöhung die hohe Inflation bekämpfen, eine verfrühte Erhöhung könnte jedoch die wirtschaftliche Erholung abwürgen. Der russische Angriff auf die Ukraine hat die Situation weiter verkompliziert: Die Auswirkungen sind nur schwer vorherzusehen, es herrscht große Unruhe in der Weltwirtschaft.
Immer mehr Stimmen im EZB-Rat wenden sich gegen die Fortführung der lockeren Geldpolitik, mit der die EZB jahrelang das Wirtschaftswachstum anfeuerte. Laut Sitzungsprotokoll der letzten Ratssitzung am 10. März herrschte keinesfalls Einigkeit über das weitere Vorgehen der Zentralbank.
„Eine hohe Anzahl von Mitgliedern war der Ansicht, dass die anhaltend hohe Inflation sofortige Schritte zur Normalisierung der Geldpolitik erforderlich mache“, heißt es in dem Protokoll. Einige Ratsmitglieder forderten ein „festes Enddatum für die Anleihekäufe im Sommer“ – eine Leitzinserhöhung wäre dann im dritten Quartal denkbar.
Der Präsident der Deutschen Bundesbank, Joachim Nagel, gehört zu den Ratsmitgliedern, die eine Zinserhöhung in diesem Jahr befürworten. „Nach meiner Einschätzung sind die ökonomischen Kosten deutlich höher, wenn wir zu spät handeln, als wenn wir frühzeitig handeln“, warnte Nagel bereits im Februar in einem Gespräch mit der „Zeit“.