ESC 2022: Die vom Krieg getroffene Ukraine hofft in Turin auf das Kalush Orchestra

Kalush Orchestra - Bild: EBU / CORINNE CUMMING
Kalush Orchestra - Bild: EBU / CORINNE CUMMING

Ein Bandkollege verteidigt gerade Kiew, und Bandgründer Oleh Psiuk will nach dem Eurovision Song Contest (ESC) schnellstmöglich wieder in die ukrainische Heimat zurück, um mit Freiwilligen der Bevölkerung zu helfen: Das Kalush Orchestra hat wohl die bewegendste Vita der diesjährigen ESC-Teilnehmer. Die Musiker pendeln zwischen Kriegsangst und „The Show Must Go On“-Mentalität und können sich Hoffnungen auf einen Sieg beim diesjährigen ESC machen.

Politische Äußerungen sind beim ESC untersagt, Psiuk brachte im ersten Halbfinale Dienstagabend zumindest eine Minibotschaft zum Angriff Russlands auf sein Heimatland unter: „Danke für die Unterstützung der Ukraine“, sagte der vom Publikum gefeierte 27-Jährige.

Psiuk ist nicht nur Gründer, sondern auch Frontmann des Kalush Orchestra und optisch eine schillernde Figur: In Turin läuft der Rapper mit einer Mütze herum, die stark an die selbstgehäkelten Klorollenhütchen erinnert, die in Deutschland früher Autofahrer auf ihrer Hutablage platziert hatten.

In üblichen ESC-Zeiten wäre die Optik der ganz normale spaßige Wahnsinn des Musikwettbewerbs, jetzt begleitet das Kalush Orchestra eng das Kriegsgeschehen in der Heimat. „Wir konnten uns bisher nicht die Stadt anschauen“, sagt Psiuk über seine schon vor einigen Tagen nach Turin gereiste Band. Sie konnten wegen der Kämpfte in der Ukraine nicht mehr zusammen üben. In Turin nutzen sie nun jede Minute dafür.

Ihr Lied „Stefania“ schrieb Psiuk schon lange vor dem russischen Angriff im Februar. „Es ist ein Lied über meine Mutter“, sagt der Rapper. Sie hätten nicht immer ein gutes Verhältnis gehabt. Das Lied sei das Beste, was er je für sie getan habe.

Statt als Hymne an die Mutter wird „Stefania“ allerdings wegen einer Zeile nun auch als Lied über den Krieg wahrgenommen. „Ich werde immer zu dir kommen, auch wenn alle Straßen zerstört sind“, heißt es in dem ukrainischen Auftritt, der starke folkloristische Elemente musikalisch mit Rap mischt.

Psiuk gründete die Gruppe im Jahr 2019, er suchte damals bei Facebook Mitstreiter. Es meldeten sich Ihor Didenchuk, ein Multiinstrumentalist und Vlad Kurochka, ein Tänzer. Als Trio entwickelten sie einen Mix aus Rap und Folk mit traditioneller ukrainischer Musik. Die Band wuchs und bekam weitere Mitglieder – an seinem Stil hielt das Kalush Orchestra fest.

Im Dezember vergangenen Jahres veröffentlichte die Gruppe ihre erste Single. Dass sie in Turin starten dürfen, erfuhren sie erst wenige Tage vor dem russischen Angriff auf ihr Heimatland. Denn im ukrainischen Vorentscheid waren sie nur auf dem zweiten Platz gelandet. Doch die Gewinnerin musste zurückziehen, nachdem eine Reise auf die von Russland annektierte Krim bekannt geworden war.

Wäre es streng nach dem Kriegsrecht gegangen, hätten die Bandmitglieder nicht nach Turin reisen dürfen. Denn Männer im Alter von 18 Jahren bis 60 Jahren dürfen derzeit ihre Heimat nicht verlassen. Für den ESC bekam die Gruppe eine Ausnahmegenehmigung.

„Wir repräsentieren jeden Ukrainer“, sagt Psiuk. „Ein Höchstmaß an Verantwortung“ verspürten sie mit ihrem Auftritt. Und das Kalush Orchestra genießt auch ein Höchstmaß an Unterstützung. Der italienische Vorjahressieger Maneskin unterstützt die Ukrainer. In den Wettbüros erwarten die Buchmacher nicht weniger als einen Sieg, die Gruppe ist dort der klare Favorit.

Die Daumen drücken für einen Sieg wird auch Slavik Hnatenko. Er ist als Tänzer eigentlich fester Bestandteil der Band. Doch Hnatenko verzichtete auf seinen Platz und meldete sich für die Landesverteidigung der Ukraine. Während seine Musikerkumpels in Turin um die Krone der europäischen Musik kämpfen, kämpft er für seine Heimat.

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