Nachdem zwei Mädchen im Alter von 12 und 13 Jahren gestanden haben sollen, die zwölfjährige Luise aus dem nordrhein-westfälischen Freudenberg erstochen zu haben, entbrennt aktuell erneut die Diskussion nach der Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze. Wir haben mit dem Juristen André Schulz zu diesem Thema gesprochen.
Herr Professor Schulz, nach solchen schrecklichen Taten wie jetzt in Nordrhein-Westfalen, wo offensichtlich Kinder zu Tätern geworden sind, beginnt oftmals die Diskussion um die Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze. Wie ordnen Sie diese Forderung ein?
Schulz: Solche Taten wie jetzt in Freudenberg machen auch Experten erstmal sprachlos und sind nur schwer zu begreifen. Man kann nur erahnen, welches Leid die Eltern empfinden müssen und fühlt mit ihnen. Die oft reflexartige Diskussion nach Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze ist aber eine Phantomdebatte, die in der Regel von denen aufgebracht wird, die wenig Ahnung von der Materie haben, wie bspw. einige Polizeigewerkschaftler, sowie von einigen Medien, für die rechtspopulistische Stimmungsmache das Geschäftsmodell ist.
Die Mehrheit an Experten und Fachleuten aus den Gebieten der Psychologie, der Justiz und der Kriminologie führen diese Diskussion nicht, denn die Gleichung „Mehr Strafrecht gleich weniger Kriminalität“ geht weder bei Erwachsenen und schon gar nicht bei Jugendlichen auf. Im Gegenteil: Eine Senkung der Strafmündigkeitsgrenze würde nicht zur Senkung der Kriminalität beitragen, sondern zur Steigerung der registrierten Kriminalität führen.
Täuscht der Eindruck oder werden die Täter immer jünger und brutaler?
Schulz: In der Gesellschaft hält sich hartnäckig die Annahme, dass die Anzahl delinquenter Kinder ständig steigen würde, diese immer früher mit devianten Handlungen beginnen und die verübten Taten immer brutaler verübt werden. Diese Annahme ist aber falsch. Die Zahl der Straftaten durch Kinder und Jugendliche, das belegen die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik, ist seit Jahrzehnten rückläufig beziehungsweise stagniert. Die Polizei Hamburg hat beispielsweise unlängst bei der Veröffentlichung der Kriminalstatistik für 2022 festgestellt, die Anzahl der Tatverdächtigen unter 21 Jahre im 10-Jahres-Vergleich um sechs Prozent zurückgegangen ist.
Dieser langfristige Rückgang der Jugendkriminalität ist gerade dahingehend bemerkenswert, da die Anzahl der unter 21-jährigen in der Hamburger Bevölkerung in den letzten zehn Jahren um 14 Prozent gestiegen ist. Auf der Basis kriminologischer Dunkelfeldforschung weiß man, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen, über 90 Prozent, in ihrer Kindheit oder Jugendzeit zumindest einmal im strafrechtlichen Sinne auffällig werden. Allerdings kommt nur ein kleiner Teil der Betroffenen deshalb mit der Polizei in Berührung. Ein Großteil der Menschen gibt derartige Verhaltensweisen spätestens mit dem Übergang in das Erwachsenenalter wieder auf und das obwohl die Taten nicht entdeckt oder gar sanktioniert wurden.
Kriminelles Verhalten ist im Altersverlauf normal. Allerdings sind solche Fälle wie jetzt in NRW die Ausnahme und extrem selten. Kindertypische Delinquenz sind in den meisten Fällen sogenannte Bagatelldelikte, wie Sachbeschädigung, Ladendiebstahl, Körperverletzung oder Brandstiftung.
Ist die Forderung nicht aber verständlich, wenn man bedenkt, dass die vermeintlichen Täterinnen strafunmündig sind und deshalb keine Konsequenzen zu befürchten haben?
Schulz: Schuldunfähig ist in Deutschland, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist. Kinder haben sich deshalb bei entsprechenden Taten nicht strafrechtlich zu verantworten. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es bisher keine Möglichkeit, den konkreten Zeitpunkt festzulegen, ab dem ein Menschen tatsächlich strafmündig im Sinne unseres Strafrechts ist. Die Bewertung der Schuldfähigkeit ist jeweils vom individuellen Entwicklungsstand abhängig und müsste von Gutachtern festgestellt werden.
Kinder können zwar schon sehr früh zwischen Recht und Unrecht unterscheiden, aber erst mit Beginn der Pubertät steigt ihre Fähigkeit, moralische Urteile fällen und die Folgen ihres Handelns wirklich abzuschätzen zu können. In der Adoleszenz verknüpfen und entwickeln sich neue Synapsen und erst ab einem Alter von etwa 25 Jahren ist das Gehirn „fertig“ entwickelt. Kinder gehören nicht in Gefängnisse.
Auch die Forderung nach härteren Strafen ist nicht zielführend. Die abschreckende Wirkung härterer Sanktionen gilt in der Wissenschaft als widerlegt. Studien belegen, dass je jünger Jugendstrafgefangene sind, desto höher die Rückfallquote ist.
Aber trotz der Strafunmündigkeit gibt es Mittel und Wege für den Staat, angemessen auf diese Taten zu reagieren. Hier greifen das Familien- und Jugendhilferecht sowie bei Jugendlichen und Heranwachsenden das Jugendstrafrecht mit seinem Erziehungsauftrag. Das zuständige Jugendamt ist nun gefordert, die Ursachen für das Verhalten der Täterinnen zu ergründen, und festzustellen, was zu dieser schrecklichen Tat geführt hat und auch, ob diese eventuell zu verhindern gewesen wäre. Der Kinder- und Jugendhilfe stehen dafür verschiedene pädagogische Möglichkeiten zur Verfügung.
Es geht bei Kindern aber immer um die Erziehung, nicht um Bestrafung. In gravierenden Fällen, wie beispielsweise bei unkooperativen Eltern, können Familiengerichte den Eltern das Sorgerecht für die Kinder entziehen und diese in einer pädagogischen oder therapeutischen Einrichtung, auch in geschlossenen Heimen, unterbringen, wenn dies zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung erforderlich ist.