Der Gesetzgeber muss „unverzüglich“ Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt erforderlichen Triage treffen. Andernfalls bestehe das Risiko, dass Menschen bei der Zuteilung knapper intensivmedizinischer Betten und Geräte wegen einer Behinderung benachteiligt würden, betonte das Bundesverfassungsgericht in einem am Dienstag in Karlsruhe veröffentlichten Beschluss. (Az: 1 BvR 1541/20)
Eine Triage betrifft Situationen, in denen weniger Plätze oder Geräte zur Verfügung stehen als für die Patienten erforderlich. Ärzte müssen dann entscheiden, welche Patienten beispielsweise ein Beatmungsgerät erhalten.
Eine gesetzliche Regelung für eine befürchtete Triage-Situation gibt es bislang nicht. Nach den hierfür bislang maßgeblichen „Empfehlungen“ der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) sind dabei die klinischen Erfolgsaussichten das entscheidende Kriterium.
Die neun Beschwerdeführer sind schwer und teilweise schwerst behindert und überwiegend auf Assistenz angewiesen. Sie befürchten in der Corona-Pandemie eine Benachteiligung, weil bei bestimmten Behinderungen oder Vorerkrankungen die Erfolgsaussichten einer intensivmedizinischen Behandlung schlechter seien als im Durchschnitt.
Das Bundesverfassungsgericht entschied nun, dass das Fehlen einer gesetzlichen Regelung den im Grundgesetz verankerten Schutz behinderter Menschen vor Benachteiligungen verletzt. Weil es in Triage-Situationen um das Recht auf Leben gehe, werde der verfassungsrechtliche Schutzauftrag hier zu einer Schutzpflicht. Dieser müsse der Gesetzgeber „unverzüglich“ nachkommen. Dabei komme ihm aber „ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“ zu.
Zur Begründung betonte das Bundesverfassungsgericht, dass die deutsche Rechtsordnung „auf eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft ausgerichtet ist“. Eine Benachteiligung wegen einer Behinderung könne daher nicht hingenommen werden.
Hier lägen aber Anzeichen dafür vor, dass den Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern in einer Triage-Situation eine Benachteiligung drohe. In ihren vom Bundesverfassungsgericht eingeholten Stellungnahmen hätten Ärzte, Facheinrichtungen und Sozialverbände dies bestätigt. Mehrere Sachverständige hätten betont, dass die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen oft sachlich falsch beurteilt werde und eine „unbewusste Stereotypisierung“ zu ihrem Nachteil drohe.
Vor diesem Hintergrund könnten auch die Divi-Empfehlungen „zu einem Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen werden“. Zwar stellten sie ausdrücklich klar, dass eine Benachteiligung aufgrund von Grunderkrankungen oder Behinderungen nicht zulässig sei. Es sei aber nicht ausgeschlossen, dass eine Behinderung pauschal mit schlechten Genesungsaussichten verbunden werde. Auch habe die Divi das Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit „nicht eindeutig nur auf die aktuelle Krankheit bezogen“.
„Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte befinden sich im Fall einer pandemiebedingten Triage in einer extremen Entscheidungssituation“, heißt es weiter in dem Karlsruher Beschluss. Auch sie bräuchten daher eine gesetzliche Handhabe, die sicherstelle, „dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird“. Bei seiner Regelung müsse der Gesetzgeber aber die „gebotene Geschwindigkeit von Entscheidungsprozessen“ ebenso berücksichtigen „wie die Letztverantwortung des ärztlichen Personals“.
Der kommissarische Leiter der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Bernhard Franke, begrüßte die Karlsruher Entscheidung. „Für Menschen mit Behinderung ist sie ein sehr wichtiges Signal“, erklärte Franke in Berlin.
Der Sozialverband VdK betonte, das Gericht habe die Politik zu sofortigem Handeln aufgefordert. „Jede Benachteiligung wegen einer Behinderung muss verhindert werden“, erklärte VdK-Präsidentin Verena Bentele.
„Der Bundestag darf sich jetzt nicht mehr wegducken“, sagte der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Er steht jetzt in der Verantwortung, Kriterien für die Triage festzulegen. Schließlich geht es bei der Entscheidung um Weiterleben oder Sterben.“