Die Europäische Zentralbank (EZB) hat ihre Inflationserwartung wegen des Ukraine-Kriegs und der stetig steigenden Energiepreise drastisch angehoben: Sie korrigierte am Donnerstag ihre Schätzung von 3,2 Prozent auf 5,1 Prozent Teuerung in diesem Jahr. Die EZB werde „alles Notwendige“ tun, um Preis- und Finanzstabilität zu gewährleisten, versicherte die Notenbank. Sie kündigte überraschend an, ihre Anleihekäufe schneller zurückzufahren als bislang geplant.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine werde nicht nur negative Folgen für die Wirtschaft der Eurozone haben, sondern habe auch die Unsicherheit „erheblich erhöht“, sagte EZB-Chefin Christine Lagarde, die bei der Pressekonferenz einen Anstecker in den Farben der ukrainischen Flagge am Revers trug. Die Invasion Russlands sei eine „Wasserscheide für Europa“.
Die Folgen sind nicht nur eine deutlich höhere Inflation, sondern auch ein deutlich niedrigeres Wirtschaftswachstum. Die EZB senkte ihre Prognose für die Eurozone für dieses Jahr von 4,9 Prozent auf 3,7 Prozent ab. Die hohen Energiekosten könnten die Wirtschaftstätigkeit „erheblich dämpfen“. Gleichzeitig könnten die Sanktionen gegen Russland die Lieferprobleme verschärfen.
Den Leitzins ließ die EZB wie erwartet auf dem Rekordniveau von null Prozent. Auch die beiden weiteren wichtigen Zinssätze bleiben unverändert: Der Einlagenzins für Banken beträgt somit weiterhin minus 0,5 Prozent. Bei kurzfristigen Kapitalspritzen und sogenannten Übernachtkrediten werden wie bisher 0,25 Prozent Zinsen fällig. Ebenso blieb die EZB bei ihrem Beschluss vom Dezember, die Anleiheankäufe unter dem Corona-Programm PEPP (Pandemic Emergency Purchasing Programme) Ende März 2022 einzustellen.
Überraschend kündigte die Zentralbank aber an, die Anleihekäufe unter dem älteren Programm zum Ankauf von Vermögenswerten (APP) würden bereits im Juni reduziert und nicht erst im Oktober. Die Käufe belaufen sich ab April auf 40 Milliarden Euro, werden im Mai auf 30 Milliarden Euro reduziert und im Juni auf 20 Milliarden Euro. Im dritten Quartal könnten sie – abhängig von der wirtschaftlichen Lage – sogar ganz eingestellt werden.
Eine Zinserhöhung werde „einige Zeit“ nach Ende des Anleihekaufprogramms erfolgen, sagte Lagarde. Das könne „in der Woche danach“ oder „Monate später“ sein. Entscheidend seien dann die wirtschaftlichen Daten.
Analyst Carsten Brzeski von der ING nannte die Entscheidung einen „guten Kompromiss“: Er gebe der Zentralbank „maximale Flexibilität“; die Option auf eine Zinserhöhung vor Jahresende bleibe bestehen. Der Hauptgeschäftsführer des deutschen Bankenverbands, Christian Ossig, forderte, die EZB müsse noch in diesem Jahr die Negativzinspolitik beenden. Angesichts des Ukraine-Kriegs und hoher Inflation passe der negative Leitzins „nicht mehr zur fundamental veränderten Lage. Er hilft auch nicht dabei, Finanzmärkte und Kreditvergabe zu stabilisieren.“
Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), Marcel Fratzscher, erklärte, ein Ausstieg aus der expansiven Geldpolitik in der zweiten Jahreshälfte erscheine „derzeit höchst unwahrscheinlich“. Die EZB sende aber ein starkes Signal an Wirtschaft und Finanzmärkte, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun wird, um sich gegen einen Absturz der Wirtschaft zu stemmen. „Dieses Signal schafft Vertrauen und hilft, die enorme Unsicherheit für Unternehmen und Bürgerinnen und Bürger zu begrenzen.“